
Mikrobiom bei Harnwegsinfekten: Was ist für die Therapie wichtig?
Harnweginfektionen (HWI) gehören zu den häufigsten Krankheitsbildern in der Urologie und werden meist antibiotisch behandelt. Doch ist dies immer sinnvoll? Professor André Gessner, Leiter des Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene an der Universität Regensburg, berichtet über die Rolle des Mikrobioms und evidenzbasierte Antibiotika-Alternativen.
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Dieses Interview wurde am 25. September 2023 in Zusammenhang mit dem 75. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) durchgeführt.
Fragen und Redaktion: Marina Urbanietz
Die Rolle des Mikrobioms in der Prävention und Therapie vieler Erkrankungen rückt immer stärker in den Fokus. Wie präsent ist dieses Thema aktuell in der Urologie?
Ich denke, wir stehen erst am Beginn der Diskussion. Die Mikrobiomforschung ist in der Intensität, wie wir sie jetzt sehen, noch keine zwanzig Jahre alt. Inzwischen haben wir über 140.000 Publikationen zum Thema Mikrobiom bei menschlichen Erkrankungen. Dabei ist das Mikrobiom des Darmes am besten untersucht. Inzwischen wissen wir jedoch, dass der menschliche Körper auch in den anderen Regionen ein Mikrobiom besitzt. Dazu gehört auch der Harnwegsbereich. Obwohl wir hier noch vergleichsweise wenig Untersuchungen haben, hat es sich bereits gezeigt, dass auch das Mikrobiom der Harnwege für Krankheitsentwicklung eine wichtige Rolle spielt.
Harnwegsinfektionen gehören zu den häufigsten Infektionserkrankungen überhaupt und werden meist antibiotisch behandelt. Wir wissen jedoch, dass die nicht physiologischen Verschiebungen im Mikrobiom, die sogenannten Dysbiosen, die u.a. durch Antibiotikatherapie entstehen, Harnwegsinfektionen begünstigen (Cai et al.: The Role of Asymptomatic Bacteriuria in Young Women With Recurrent Urinary Tract Infections: To Treat or Not to Treat? Clin Infect Dis. (2012) 55 (6): 771-777. doi: 10.1093/cid/cis534); (Schembri M. A. et al.: Gut–bladder axis in recurrent UTI. Nature Microbiology, 2. May 2022).
Welche weiteren Studien sind in diesem Zusammenhang nennenswert?
Es gibt eine ganze Reihe von Studien, die den Einfluss von Antibiotika auf das Mikrobiom untersucht haben. Gute Arbeiten gibt es zum Beispiel bei Ciprofloxacin. Diese haben gezeigt, dass nach Ciproflaxingabe erhebliche Verschiebungen im Darmmikrobiom auftreten, die langfristig zu beobachten sind (Stewardson AJ. et al.: Collateral damage from oral ciprofloxacin versus nitrofurantoin in outpatients with urinary tract infections: a culture-free analysis of gut microbiota. Clin Microbiol Infect. 2015 Apr;21(4):344.e1-11. doi: 10.1016/j.cmi.2014.11.016. Epub 2014 Nov 25).
Welche Rolle spielt das Mikrobiom bei HWI und wie hängt dies mit dem Antibiotikaeinsatz zusammen?
Die unkomplizierten HWI sind bei sonst gesunden Patienten keine lebensbedrohliche Erkrankung. In sehr seltenen Fällen kann es zu einer Pyelonephritis mit Urosepsis kommen, die allerdings meist bei älteren multimorbiden Patienten auftritt. Das heißt, wir sprechen über eine vergleichsweise harmlose selbstlimitierende Erkrankung, die allerdings einen großen Leidensdruck zur Folge hat. Und aus diesem Grund kommen die Patienten zu uns. Dabei steht die Symptomlinderung und die Verkürzung der Krankheitsdauer im Vordergrund. Dies kann allerdings nicht nur mithilfe von Antibiotika erreicht werden. In der Studie von Gagyor et al. schnitt Ibuprofen im Vergleich zu Fosfomycin bei der Symptomverkürzung und -linderung fast identisch ab (Gagyor I. et al.: Ibuprofen versus fosfomycin for uncomplicated urinary tract infection in women: randomised controlled trial. BMJ 2015; 351: h6544). Demnach waren nach sieben Tagen in der Ibuprofen-Gruppe 70 % der Patientinnen beschwerdefrei, in der Fosfomycin-Gruppe 82 %. Die symptomatische Behandlung mit Ibuprofen verminderte die Gesamtzahl verordneter Antibiotika im Vergleich zur Fosfomycin-Gruppe um zwei Drittel.
Auch evidenzbasierte Phytopharmaka haben in Studien ähnliche Ergebnisse bei der Symptomlinderung wie Fosfomycin oder Nitrofurantoin erreicht (Wagenlehner F et al. (2018): Non-Antibiotic Herbal Therapy (BNO 1045) versus Antibiotic Therapy (Fosfomycin Trometamol) for the Treatment of Acute Lower Uncomplicated Urinary Tract Infections in Women: A Double-Blind, Parallel-Group, Randomized, Multicentre, Non-Inferiority Phase III Trial. Urol Int.).
Zudem haben einige Studien gezeigt, dass eine Antibiotikatherapie das Risiko eines rezidivierendes Harnweginfekts steigert, während die Inokulation von E. coli Bakterien in die Blase es wiederum absenkt (Wullt & Svaneborg 2016: Deliberate Establishment of Asymptomatic Bacteriuria—A Novel Strategy to Prevent Recurrent UTI. Pathogens 2016, 5(3), 52; doi:10.3390/pathogens5030052). Auch eine fäkale Mikrobiota-Transplantation (FMT) wird mit einem verringerten Risko einer rezidivierenden Harnwegsinfektion assoziiert (Tariq R et al.: Fecal Microbiota Transplantation for Recurrent Clostridium difficile Infection Reduces Recurrent Urinary Tract Infection Frequency. Clin Infect Dis. 2017 Oct 30;65(10):1745-1747. doi: 10.1093/cid/cix618).
Diese Ergebnisse zeigen, dass eine Mikrobiomkorrektur eine wichtige Rolle bei der Therapie von HWI spielt. Für die Praxis würde es heißen, dass ein Antibiotikum nicht immer erforderlich und nicht immer die beste Wahl ist.
Und wenn eine Antibiotikatherapie erforderlich ist, welche Substanzen würden Sie empfehlen?
Ich fange mit einer Negativempfehlung an. Heute wissen wir, dass vor allem Fluorchinolone (z. B. Ciprofloxacin) viele Nebenwirkungen und einen starken Einfluss auf das Mikrobiom haben. Dies ist bereits länger bekannt, doch die Verschreibungszahlen zeigen, dass die Botschaft in der Ärzteschaft noch nicht flächendeckend angekommen ist. Es wäre mir deshalb ein Anliegen, noch einmal zu betonen, dass Fluorchinolone NICHT als Erstlinientherapie bei HWI geeignet sind. Da würde ich lieber Nitrofurantoin oder Fosfomycin einsetzen, die auch in den Leitlinien empfohlen werden.

Die Zahl der Resistenzen und damit der Selektionsdruck für Antibiotika steigt kontinuierlich an. Doch es wird auch an neuen Substanzen gearbeitet. Professor Florian Wagenlehner, Direktor der Klinik für Urologie am Universitätsklinikum Giessen, berichtet über die neusten Entwicklungen aus urologischer Sicht. Zum Beitrag >>
Welche Phytotherapeutika haben sich aus Ihrer Sicht bewährt?
Präparate mit Liebstöckel, Tausendgüldenkraut und Rosmarin haben bereits gute Ergebnisse gezeigt. Auch Cranberry und Mannose, die in der S3-Leitlinie zu unkomplizierten Harnwegsinfektionen berücksichtigt sind, könnten bei der Therapie von HWI sinnvoll eingesetzt werden.
Gibt es bei Mikrobiom geschlechtsspezifische Unterschiede?
Gerade im Mikrobiom des Urogenitaltrakts gibt es sehr große Unterschiede. Männer haben mehr Corynebakterien und Streptokokken verschiedenster Art, während bei Frauen in der geschlechtsreifen Lebensspanne Laktobazillen dominant sind. Insgesamt sind Harnwegsinfektionen bei Frauen, wie wir alle wissen, deutlich häufiger als bei Männern. Dies ist hauptsächlich anatomisch bedingt, aber eben vielleicht nicht nur, weil doch auch einige Mikrobiomunterschiede bestehen.
Welche neuen Therapieansätze bei HWI sind aus Ihrer Sicht erwähnenswert?
Die Probiotikagabe und die Phagentherapie würde ich als vielversprechende Entwicklungen ansehen. Aber hier steht die Forschung noch ganz am Anfang. Es werden mehrere Jahre vergehen, bis diese Ansätze spruchreif sind.
Wie lässt sich das Mikrobiom positiv beeinflussen? Welche einfachen Maßnahmen können Urologinnen und Urologen ihren Patienten an die Hand geben?
Was kann ich Gutes für mein Mikrobiom tun? Diese Frage wird in der Mikrobiumforschung oft gestellt. Und leider gibt es hier kein Wunderrezept. Ich würde in diesem Zusammenhang zwei Punkte betonen:
- Vermeiden Sie, wenn möglich, Antibiotika.
- Ernähren Sie sich gesund, und zwar: mit vielen pflanzlichen komplexen Kohlenhydraten und vermeiden Sie hyperkalorische oder sehr kohlenhydratreiche Ernährung.
Zur Person:

Professor Dr. Dr. André Gessner ist Facharzt für Medizinische Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie, Molekularbiologe und Fachimmunologe. Seit 2010 hat er den Lehrstuhl für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene an der Universität Regensburg inne. Seine Forschungsgruppe untersucht mit modernen molekularen Methoden Krankheits- und Abwehrprozesse bei Infektionen sowie die Rolle des Mikrobioms bei der Entstehung verschiedener Erkrankungen.
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