Semikastration nach unterbliebener Freilegung des Hodens
Einem Patienten wurden 18.000 Euro Schmerzensgeld durch das LG Augsburg zugesprochen (Urt. v. 07.12.2010 – 4 O 4224/071). Er hatte sich mit zunehmenden Schmerzen und einer Schwellung im Bereich des rechten Hodens in der Notaufnahme eines Krankenhauses vorgestellt. Dort sah man jedoch zunächst keine Veranlassung für eine Freilegung des Hodens.
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Dieser Beitrag erscheint in Zusammenarbeit mit Alexa Frey, Fachanwältin für Medizinrecht | Redaktion: Dr. Nina Mörsch
In der Notaufnahme stellten die Ärzte die Diagnose einer „Epididymitis rechts“ und nahmen den Patienten stationär auf. Ein operatives Vorgehen wurde nicht veranlasst, vielmehr wurde der Patient mit einem Antibiotikum und Schmerzmitteln behandelt und angewiesen, den Hoden hoch und kühl zu lagern.
Drei Tage später entließen die Ärzte den Patienten in die ambulante urologische Betreuung. Der Patient hatte sich bereits ein Jahr zuvor ebenfalls mit einer Nebenhodenentzündung in der Behandlung des Krankenhauses befunden.
Semikastration aufgrund von Infarzierung und Nekrotisierung
Etwa zwei Wochen später wurde der rechte Hoden operativ schließlich doch freigelegt. Es zeigte sich eine komplette Torquierung bei ausgeprägter Infarzierung und Nekrotisierung. Da der Hoden nicht mehr zu retten war, erfolgte eine Semikastration.
Der Patient war der Ansicht, das Krankenhaus hätte bei der Vorstellung in der Notaufnahme und stationären Behandlung mit der Nebenhodenentzündung, eine Hodentorsion mittels Schnitt, Freilegung und Sichtkontrolle ausschließen müssen. Die aufgetretenen Symptome hätten denjenigen einer Hodentorsion entsprochen oder diese zumindest nicht ausschließen lassen. Dies umso mehr, als er ein Jahr zuvor einen Epididymitis erlitten habe und die nun empfundenen Schmerzen mit denen aus dem letzten Jahr an Intensität nicht vergleichbar geschildert habe. Vor diesem Hintergrund habe er bei der Aufnahmeuntersuchung auch die Frage gestellt, ob es sich nicht um eine Hodentorsion handeln könne, was mit dem Hinweis verneint worden sei, dies könne nicht sein, da er (der Patient) nicht mehr in dem Alter hierzu sei.
Vorliegen eines Behandlungsfehlers
Das sachverständig beratene Gericht sah in der fehlenden Abklärung der Hodentorsion eine Unterschreitung des Facharztstandards und somit das Vorliegen eines Behandlungsfehlers. Grundsätzlich müsse stets - auch in Zweifelsfällen - eine Freilegung des Hodens zum Ausschluss einer Hodentorsion erfolgen. Dies vor allem, da ein torquierter Hoden nur bei sofortigem Eingreifen „gerettet“ und erhalten werden könne. Falls hingegen doch (nur) eine Epididymitis vorliege, trete mit der OP - auch in Anbetracht einer Nutzen-Risiko-Abwägung - keine (zusätzliche) Verschlechterung der Erkrankung ein. Die unterbliebene sofortige Freilegung des Hodens wurde als grober Behandlungsfehler gewertet.
Nachdem es keinen biphasischen Verlauf dergestalt gebe, dass sich eine Epididymitis zu einer Hodentorsion entwickle, gebe es keine andere logische Erklärung als dass die Hodentorsion mit dem ersten Schmerzereignis eingetreten sein müsse.
Freilegung des Hodens bei V.a. Hodentorsion
Nach Ansicht des Gerichtes müsse bei einer Behandlung „lege artis“ stets bei geäußerter Schmerzsymptomatik und der zu stellenden Differenzialdiagnostik zwischen Epididymitis und Hodentorsion eine „Sichtkontrolle“ mittels Schnitt gemacht werden. Bei dem Verdacht auf eine Hodentorsion müsse immer eine Freilegung des Hodens erfolgen. Dies vor allem, da bei dem „Übersehen“ einer Hodentorsion, der Verlust des Hodens drohe. Der Eingriff sei daher aufgrund der Risiko-Nutzen-Abwägung stets vorzugswürdig.
Über Alexa Frey
Alexa Frey ist selbständige Rechtsanwältin und Fachanwältin für Medizinrecht und Fachanwältin für IT-Recht. Sie berät Leistungserbringer im Gesundheitswesen in Fragen des Arzthaftungsrechts, IT-Rechts, Datenschutzes, Vertrags- und Gesellschaftsrechts, Vergütungsrechts und Medizinstrafrechts. Kontakt: [email protected]

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