Warten auf die Psychotherapie: Wie kann die Zeit genutzt werden?
Bis zum Beginn einer Psychotherapie vergehen oft Woche oder Monate. Wie die Wartezeit genutzt werden kann und so sowohl Patientinnen und Patienten als auch Therapeutinnen und Therapeuten profitieren können, erläutert der Psychotherapeut Dr. Achim Schubert aus Ebersberg.
Lesedauer: ca. 6 Minuten

Redaktion: Christoph Renninger
Weshalb müssen Patientinnen und Patienten monatelang auf einen Psychotherapie-Platz warten?
Dr. Achim Schubert: Obwohl wir in Deutschland noch über eine leistungsfähige und qualifizierte Versorgung mit ambulanter Psychotherapie verfügen, sind Wartezeiten unvermeidbar. Der erhebliche Zeitbedarf an individueller Zuwendung durch die Behandelnden unterscheidet die Psychotherapie von anderen Bereichen der Gesundheitsversorgung.
Die Nachfrage nach Therapie überstieg besonders in den letzten Jahren trotz beachtlicher Zuwächse an Kassensitzen das Angebot. Aktuell (Deutsches Ärzteblatt 2023) suchen 10 % aller Erwachsenen innerhalb eines Jahres wegen psychischer Erkrankungen Hilfe, wovon knapp über die Hälfte psychotherapeutische Leistungen erhielten.
Wie lange ist die durchschnittliche Wartezeit auf einen Therapie-Platz?
Schubert: Eine aktuelle Studie geht durchschnittlich von 18 bis 20 Wochen zwischen Anmeldungszeitpunkt und dem Behandlungsbeginn aus. Regional bestehen je nach Therapeuten-Dichte große Unterschiede. Für Berlin beispielsweise werden im Mittel etwa drei Monate Wartezeit angegeben. Im Saarland wartet man doppelt so lange auf einen Therapiebeginn. Weiterhin ist die Wartezeit von der Spezialisierung bzw. Arbeitsweise der Praxen abhängig. Kolleginnen und Kollegen, die vorrangig die besser vergüteten und weniger bürokratischen Aufwand erfordernden Kurzzeit-Behandlungen anbieten, haben kürzere Wartezeiten als Behandelnde, die mehr Langzeit-Behandlungen durchführen.
In meinem Landkreis Ebersberg im Südosten von München schwanken die Angaben von 3 bis 6 Monaten. Einige Kolleginnen und Kollegen verzichten ganz auf Wartelisten. Sie nehmen zur Behandlung auf, wer sich gerade meldet, wenn wieder ein Therapieplatz frei wurde.
Weshalb kann eine lange Wartezeit problematisch sein?
Schubert: Problematisch wird es immer dann, wenn Patientinnen und Patienten mit depressiven oder Angst-Störungen wiederholte Verweisungen persönlich nehmen. Wer resigniert, neigt oft auch zum „Überbrücken“ mit Bewältigungstrinken oder Arzneimittel-Missbrauch. Die Verschleppung verstärkt zumeist die Krankheitslast. Zu bedenken sind auch die Folgen der längeren psychischen Erkrankung für die Familienmitglieder.
Beispielsweise erschöpfen oft Mobbing-Betroffene („Burnout“), die zu Beginn ihrer Probleme bereits von einer Kurzzeit-Behandlung profitiert hätten. Einige zweifeln nach längerer Krankschreibung an ihrer Berufstauglichkeit. Das zieht oft aufwändige Rehabilitationsverfahren, in schweren Fällen sogar Berentung nach sich.
Wie kann die Wartezeit sinnvoll genutzt werden?
Schubert: Durch Informationen, die angemessene Erwartungen vermitteln und vor allem durch Aktivität als spezifische Vorbereitung auf die Behandlung.
Zu Beginn eines Therapieprozesses geht es oft darum, eine hilfreiche Selbstreflexion anzuregen, beispielsweise: „Welchen Anteil hat meine bisherige Lebensgestaltung an der Entstehung meiner Probleme? Wie funktioniert die Balance von Geben und Nehmen in meinen wichtigen Beziehungen? Wie gestalte ich das Verhältnis zwischen Anstrengung und Ergebnis meiner Tätigkeit? Sind meine Ziele erreichbar? Stimmen verinnerlichte Werte mit meinen Zielen überein? Welche Beziehung habe ich zu meinem Körper?“
Vorbereitende Aktivitäten können z. B. Biografie-Arbeit, therapeutisches Schreiben (Erfolgstagebücher führen), Erlernen psychoregulativer Entspannung, Meditation, Atemübungen oder Intensivierung sozialer Kontakte umfassen.
Welche Möglichkeiten und Ressourcen stehen Wartenden zur Verfügung und wie können Sie an diese gelangen?
Schubert: Psychische Störungen gehen zumeist einher mit Fokussierung auf Defizite und Probleme. Zumeist besteht eine generelle Ungeduld, schnell und grundsätzlich DAS Problem oder DIE Störung zu überwinden. Daher ist eine Orientierung auf Lösungsschritte zur relativen Verbesserung der oft komplexen Situation hilfreich, nach dem Motto: „Das Eichhörnchen verzweifelt, wenn es über den Wald springen soll. Aber es kommt durch den Wald hindurch, indem es von einem Ast zum nächsten springt.“
Es gilt, innerhalb des individuellen Spektrums von Ressourcen fündig zu werden und die entsprechenden musischen Begabungen oder kreativen Ausdrucksmöglichkeiten zu aktivieren. Auch sollten Tätigkeiten, die vor der Krise mit Interesse bzw. Erfolgserleben verbunden waren, wieder angeregt werden. Stärkend wirkt die Würdigung von Erfolgserlebnissen (in einigen Fällen sogar der bisherigen Lebensleistung) vor der derzeitigen Krise. Thematisiert werden persönliche Schutz-Faktoren, die sich bereits bei der Überwindung bisheriger Krisen bewährten. In dem hier vorgestellten Buch widme ich diesem Thema das Kapitel „Meine Schatzkiste.“
Wie findet man die geeignete Therapeutin / den passenden Therapeuten?
Schubert: Die Wahl der passenden Therapeutin bzw. des Therapeuten erfolgt - wie auch die Wahl einer Lebenspartnerschaft - im Wesentlichen durch Intuition, ergänzt vom Lernen durch Versuch und Irrtum. Zur Erprobung stehen gesetzlich Versicherten mehrere Sitzungen zur Verfügung, die quartalsweise auch unter jeweils verschiedenen Therapie-Anbietenden aufgeteilt werden können.
Empfehlenswert ist es für Therapiesuchende, zu reflektieren, ob im ersten Gespräch deutliche, aus ihrer Lebensgeschichte übertragene, Reaktionen auftraten: Idealisierung oder Herausforderungen, sich gegen vermeintliche oder tatsächliche Zurückweisung durchzusetzen, sollten ebenso wie spontane eigene Abneigung als Ausschlusskriterien für eine effektive Zusammenarbeit anerkannt werden. Wenn Behandelnde in ersten Gesprächen schon Parallelen vom geschilderten Problem der Patientinnen und Patienten zu eigenen, persönlichen Problemen schildern, ist die Gestaltung eines Raumes unabhängiger Suche infrage gestellt.
Weiterhin ist ein Grundgefühl von Sicherheit in der therapeutischen Beziehung wichtig. Ähnlich wie man einen Chirurgen fragen sollte, wie viele Erfahrungen er mit einer anstehenden Operation hat, ist die Frage legitim, ob sich die Psychotherapeutin mit dem geschilderten Problem auskennt.
Was raten Sie Therapie-Suchenden in der Zeit bis zum Therapiebeginn?
Schubert: Finden Sie heraus, unter welchen Bedingungen die Störungen verstärkt oder gelindert werden kann bzw. noch nie auftraten. Schämen Sie sich nicht Ihrer Probleme, sondern sprechen Sie darüber mit vertrauenswürdigen und einfühlsamen Personen. Wenn Sie sich aufgrund der Probleme zurückgezogen haben sollten, suchen Sie sich passende Selbsthilfegruppen.
Zur Linderung spezifischer Störungen sind oft DIGAs (Digitale Gesundheits-Apps) hilfreich. Informieren Sie sich über Therapieformen und typische Behandlungsabläufe. Wenn Sie noch mehr Unterstützung brauchen, bieten auch soziale Beratungsdienste kommunaler oder kirchlicher Träger überbrückende Gespräche an.
Sie können sich im Rahmen des sog. Kosten-Erstattungsverfahrens an approbierte Psychotherapeutinnen oder -therapeuten in Privat-Praxen wenden, die keine Kassenzulassung haben. Die Krankenversicherungen entscheiden dann im Einzelfall über die Übernahme der Kosten. Die Erstattungen gewähren sie, sofern die Indikation einer Therapie gestellt wurde und Behandelnde mit Kassenzulassung nicht in zumutbarer Zeit verfügbar sind.
Gruppentherapien werden von den Krankenversicherungen gefördert. Wenn soziale Hemmungen im Vordergrund des Leidensdruckes stehen, dann lohnt es sich auch bei den Therapie-Anbietenden anzufragen, ob ein Behandlungsplatz in einer Gruppe verfügbar ist. Meist erfolgt dann die Aufnahme schneller als bei Einzeltherapien.
Können Sie anhand von 2,3 Fallbeispielen schildern, wie dies gut gelingen kann?
Schubert: Hierzu möchte ich auf mein Buch verweisen: Darin habe ich 17 typische Fallbeispiele häufig vorkommender Störungen ausgewählt, um zu schildern, wie die Therapie jeweils gelingen kann. Interessenten können draus nach ihrer jeweiligen Problemlage das passende Fallbeispiel auswählen.
Die Besonderheit der Fall-Darstellungen besteht in einem narrativen Ansatz. Der Mensch ist ein „Homo narrans“: Vielen Störungen liegen handlungsleitende Erzählungen, Selbst-Erklärungen oder Glaubensätze zugrunde, welche die belastenden Probleme aufrechterhalten. Effektive Therapien verändern diese Narrative, um aufbauend solche zu erschaffen, die Denkräume und Handlungsmöglichkeiten erweitern.
In welcher Hinsicht profitieren Zuweisende anderer Fachgruppen sowie Psychotherapeutinnen und -therapeuten von einem solchen Vorgehen?
Schubert: Eine gut vorbereitete Therapie motiviert Patientinnen und Patienten zur Mitarbeit und trägt erheblich zum Erfolg bei. Hierzu zitiere ich Dr. Maaß, der sich als Stellvertretender des Bundesvorsitzenden der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV) an die Fachschaft wendet:
„Der gut informierte, bereits in der Vorbereitungsphase aktive Patient, hat die Chance, intensiver von einer nachfolgenden Behandlung zu profitieren. Krankheitsverständnis, Selbstverständnis, Therapiemotivation und -vorbereitung können durch strukturierte Angebote sicher gesteigert werden, was sich von Beginn an günstig auf den Therapieerfolg auswirkt und den Erfolg Ihrer aufbauenden gemeinsamen Arbeit fördert. In diesem Sinne mögen Sie vielleicht erproben, ob dieses Buch Ihr Management von Wartezeiten unterstützt?“
Das Buch "Warten auf die Psychotherapie?"
- Hilft, die Wartezeit bis zum Beginn der Psychotherapie zu überbrücken
- Informiert anschaulich, was Psychotherapie leisten kann - und was nicht
- Mit Übungen zur Selbsthilfe, Linderung von Symptomen und Vorbereitung auf eine Therapie
Es beinhaltet:
- Grundsätzliche Fragen der Vorbereitung einer PsychotherapieEffekte, Wirkprinzipen, Therapeutenwahl, Behandlungsformen, Beantragung.
- Geschichten in der Therapie: narrative Behandlungszugänge und Anwendungsbeispiele an für die Praxis typischen Fall-Beispielen (u. a. Ängste, Depression, „Burnout“, Zwänge, Prokrastination, Somatisierung, Suizidalität, giftige Beziehungen, Posttraumatische Belastungsstörungen).
- Anregungen und Übungen zur Vorbereitung einer Psychotherapie Übungen zur konstruktiven Selbstreflexion oder zur Linderung depressiver Stimmungen und Ängste, therapeutisches Schreiben, Ressourcen-Aktivierung, Hinweise zur Bibliotherapie und Übersicht digitaler Gesundheitsanwendungen