Psychochirurgie: Vergangenheit und Zukunft
Im frühen 20. Jahrhundert wagten sich einige unerschrockene Psychiater ohne chirurgische Übung ans Skalpell und suchten im Gehirn nach physischen Grundlagen psychischer Erkrankungen. Was kann die Psychochirurgie heutzutage?1
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Redaktion: Dr. David M. Warmflash, Christoph Renninger
Aus heutiger Sicht fragwürdig
Die Suche nach invasiven chirurgischen Eingriffen zur Therapie psychiatrischer Erkrankungen erscheint aus heutiger Sicht fragwürdig. Im modernen Medizinstudium und Facharztausbildungen gibt es wenig Überschneidungen zwischen Chirurgie und Psychiatrie. Vor hundert Jahren mag dies noch anders gewesen sein, zumal das Feld der Psychiatrie noch am Anfang stand und psychische Erkrankungen kategorisierte und definierte.
Die Chirurgie war damals weiter entwickelt, etwa bei der Entfernung von Organen oder Organteilen, selbst wenn über ihre Funktion wenig bekannt war. Allgemein anerkannt war, dass Dysfunktionen des Gehirns für mentale Krankheiten verantwortlich waren. Daher erschienen operative Eingriffe zur Behandlung durchaus logisch.
Eine Ära des Fortschritts
Ein Zeitalter voller Entdeckungen und Entwicklungen in der Medizin begann um 1890, mit organisierter Krankenpflege und wachsender Bedeutung der Wissenschaft. Die Vier-Säfte-Theorie war Geschichte.
In dieser Zeit versuchte sich der Schweizer Neuropsychiater Gottlieb Burkhardt als einer der ersten an der modernen Psychochirurgie, und das ohne chirurgische Ausbildung. 1888 führte er Kraniotomien durch und induzierte Läsionen in der weißen Substanz bei sechs Psychiatrie-Patienten, die als aggressiv, chronisch erregt und mit paranoiden Wahnvorstellungen beschrieben wurden.
Die Prozeduren erbrachten fragwürdige Ergebnisse und die medizinische Gemeinschaft war skeptisch, wenn nicht geschockt. Psychochirurgische Operationen gerieten in den folgenden Jahrzehnten aus dem Blickpunkt der Ärzteschaft.
Zähne, Psyche und Amputationen
Zur etwa gleichen Zeit griff der US-amerikanische Psychiater Henry Cotton zum Skalpell, um psychiatrische Krankheiten zu behandeln, allerdings nicht direkt im Gehirn. Seine These dahinter war so fortschrittlich wie falsch. Heute gibt es viele, wissenschaftlich belegte Verbindungen zwischen psychischen Krankheiten und biologischen Ursachen, etwa Genvarianten oder Zusammenhänge mit Infektionen und Immunprozessen. Doch Cottons Idee war weniger fundiert.
Im Jahr 1913 erschien ein Artikel über den Nachweis von Spirochäten in den Gehirnen von Menschen, die an neuropsychiatrischen Erkrankungen verstorben waren. Inzwischen geht man davon aus, dass es sich um Neurosyphilis handelte. Cotton sah eine Verbindung zwischen Infektionen und Depressionen oder Wahnvorstellungen.
Er kam zu dem Schluss, dass die Ursache der meisten psychiatrischen Krankheiten bei Infektionen der Zähne liege. Er ließ sich selbst einige Zähne ziehen, als er sich Sorgen um die eigene geistige Gesundheit machte. Außerdem extrahierte er alle Zähne seiner Ehefrau und seiner Kinder als prophylaktische Maßnahme.
Wenn das Entfernen einiger oder gar aller Zähne nicht ausreichte, um die Symptome seiner Patientinnen und Patienten zu lindern, ging Cotton weiter im Körper voran. Er entfernte Tonsillen, Gallenblase, Milz, Magen, Dickdarm oder alles andere, was Bakterien in sich tragen könnte.
Während seiner Tätigkeit in Trenton, New Jersey, (1907-1930) entnahmen er und seine Kollegen mehr als 11.000 Zähne, Tausende von Tonsillen und zahlreiche weitere Organe. Dabei lag die Mortalität bei größeren Operationen über 30%.
Die nächste Welle der Psychochirurgie
Wenige Jahre nach Cottons Ruhestand waren Carlyle Jacobson und John Fulton in Yale aktiv, wo sie an Schimpansengehirnen Läsionen und Resektion durchführten, um mehr über die Hirnanatomie und -physiologie zu erfahren – Versuche, die nach heutigen Maßstäben ethisch nicht vertretbar wären.
Von den vorgestellten Versuchsergebnissen angetan waren der portugiesische Neurologe Antonia Egas Moniz und der US-Neuropsychiater Walter Freeman, der zahlreiche Operationen am menschlichen Gehirn durchgeführt hatte. Besonders die Operationen am Frontallappen der Schimpansen konnten angeblich Verhaltenssymptome der Tiere heilen. Moniz entwickelte die von ihm sogenannte „Frontale Leukotomie“ mit dem „Leukotom“, welches nach Trepanation in den Schädel eingeführt wurde. Ein Draht durchtrennte dann die Nervenbahnen im Gehirn.
Für die Entdeckung des therapeutischen Wertes der präfrontalen Leukotomie bei gewissen Psychosen erhielt Moniz 1949 den Medizinnobelpreis. Freeman modifizierte den Ansatz und nannte ihn präfrontale Lobotomie. Die Prozedur war Berichten zufolge effektiv bei der Behandlung von Depressionen, Angsterkrankungen, Psychosen und Epilepsie und verbreitete sich in den USA, unter anderem wurde auch Rose Marie Kennedy, die Schwester des späteren US-Präsidenten, behandelt, was erst mit John F. Kennedys Einzug ins Weiße Haus bekannt wurde.
Mit dem Eispickel durch die Augenhöhle
Freeman war jedoch unzufrieden mit der Prozedur, die einen Neurochirurgen, einen OP-Saal, einen Anästhesisten und mehrere Assistenten und Techniker benötigte und daher an vielen Einrichtungen nur schwer durchführbar war. Eine Erleichterung fand er in den Arbeiten des italienischen Psychiaters Amarro Fiamberti, der seit 1937 einen transorbitalen Ansatz verfolgte.
Unter Umgehung des Auges gab es einen direkten Zugang zum Gehirn. Davon und einem Eispickel in seiner Küche inspiriert entwickelte Freeman ein Instrument, mit dem er innerhalb einer Minute eine Lobotomie durchführen konnte, lediglich mit Lokalanästhesie.
Freeman zerstritt sich über die Therapie mit Moniz und anderen Kollegen, reiste aber durch die USA und unterrichtete seine Methode, trotz aller Widerstände. In den frühen 1950ern wurden viele Tausend Patientinnen und Patienten lobotomiert, darunter 3500 von Freeman selbst.
Von steriler Technik hielt Freeman dabei wenig, wie Bilder zeigen, auf denen er ohne Kittel, Handschuhe und richtig sitzenden Mund-Nasenschutz arbeitet. Vielmehr war er ein Showman, der zu Schauzwecken sogar zwei Operationen gleichzeitig durchführte, eine mit jeder Hand. Auch wenn es zu fatalen Unfällen kam, wenn das Instrument zu tief eingeführt wurde, verbreitete sich die Methode.
Auch nach Einführung des ersten antipsychotischen Medikaments, Promethazin, und der darauffolgenden Abnahme der Zahl an Lobotomien, dauerte es bis in die 1970er bis eine Kommission die Folgen der Operationen untersuchte.
Bis dahin waren 40.000-50.000 Lobotomien in den USA durchgeführt worden, mit mehreren Todesfällen in direktem Zusammenhang. Die Technik fand zudem Einzug in die Popkultur, das bekannteste Beispiel der Roman und Film „Einer flog übers Kuckucksnest“.
Eingriff mit langen Folgen
MRT-Aufnahmen von lobotomierten Patientinnen und Patienten, die bis in die 1990er überlebten, helfen bei der Aufschlüsselung frontozingulärer, frontothalamischer und frontokapsuläre Netzwerke. Die Ergebnisse zeigen, dass trotz der obskuren Methode, Läsionen die Ängste oder andere Symptome lindern können, indem Verbindungen zwischen frontalem Kortex und tieferen Hirnregionen, wie dem Thalamus oder dem limbischen System gekappt werden.
Manche Obsessive Zwangsstörungen konnten auch aufgrund dieser Ergebnisse auf eine exzessive Verbindung zwischen dem für Planung zuständigen präfrontalen Kortex und dem emotionalen Zentren in tiefen Hirnregionen zurückgeführt werden.
Und heute?
Neurochirurgische Interventionen sind vielversprechend bei verschiedenen Erkrankungen. Implantierte Elektroden oder kleine Läsionen in bestimmten Hirnbereichen werden bei austherapierten Patientinnen und Patienten mit affektiven oder Angststörungen angewandt. Dazu zählen die anteriore Zingulotomie, die limbische Leukotomie oder die subcaudate Traktotomie.
Mittels stereotaktischer Techniken und fortschrittlicher Bildgebung können diese Eingriffe auf den Mikrometer genau durchgeführt werden, und zwar von Neurochirurgen, nicht von Psychiatern. Die Auswahl und Betreuung von Patientinnen und Patienten ist jedoch eine interdisziplinäre Aufgabe zwischen den Fachgebieten.
Dieser Beitrag ist im Original erschienen bei Medscape.