Der Krieg und die Psyche
Wie schrecklich die körperlichen Schäden und ihre Folgen sind, die Soldaten und Zivilisten durch Granatsplitter etwa erleiden, dürfte durch Bildmaterial, Filmdokumentationen oder Ausstellungen hinreichend bekannt sein. Herausfordernd ist auch die Behandlung der seelischen Schäden, die Soldaten und Zivilisten in der Ukraine erleiden.
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Autor: Dr. Thomas Krohn | Redaktion: Christoph Renninger
Materialschlachten im Ersten Weltkrieg
Wie die Psyche von Menschen durch Krieg verletzt wird, haben zum Beispiel Schriftsteller und andere Künstler beschrieben, die als Soldaten an den Stellungskriegen und so genannten „Materialschlachten“ des Ersten Weltkrieges teilgenommen hatten.
Eine Vielzahl der Soldaten reagierte auf das Erlebte mit Lähmungen einzelner oder mehrerer Gliedmaßen, sie wurden blind oder taub, zuckten und zitterten; manche Soldaten verstummten (Mutismus) nach dem Anblick von verstümmelten oder toten Kameraden oder brachen psychisch zusammen. Manche seien „Idioten geworden und geblieben“, erzählte der französische Kriegsteilnehmer und Philosoph Émile Auguste Chartier (1868-1951).
Auch damalige Militärmediziner berichteten von teilweise massenhaft auftretenden und eindrücklichen Symptomen unter den Front-Soldaten. Subsumiert wurde der plötzlich auftretende Symptomenkomplex unter dem Begriff Kriegsneurose. Wie Soldaten mit ihren Emotionen, mit ihren Ängsten umgingen, untersuchte 1919 der Tübinger Doktorand Walter Ludwig.
Ganz oben auf der Liste der „Maßnahmen“ gegen die Furcht hätten religiöse Regungen gestanden, berichtet der Freiburger Historiker Professor Dr. Jörn Leonhard in seiner Geschichte des Ersten Weltkrieges („Die Büchse der Pandora“).
„Moralische Minderwertigkeit" angeblich eine Ursache der Neurose
Wissenschaftliche Diskussionen über traumatische Neurosen gab es außerdem bereits vor dem Ersten Weltkrieg - im Zusammenhang mit den vermehrt auftretenden Industrie- und Eisenbahnunfällen. So habe 1889 der Berliner Neurologe Hermann Oppenheim (1857–1919) postuliert, dass bei Arbeitern nach Industrie- bzw. Eisenbahnunfällen neu aufgetretene Neurosen auf „mikroskopische Erschütterungen des Zentralnervensystems“ zurückzuführen seien, berichten Georg Bornemann und Professor Holger Steinberg (Universität Leipzig).
Es habe sich also nicht, wie Oppenheims französischer Kollege Jean-Martin Charcot (1825–1893) gemeint habe, um eine Form der Hysterie gehandelt. Laut Bornemann und Steinberg etablierte sich die traumatische Neurose „im Zuge der Sozialgesetzgebung Bismarcks zunächst als Diagnose, die Betroffene zu einer staatlichen Rente“ berechtigte.
In den folgenden Jahren hätten jedoch andere Nervenärzte zunehmend Oppenheims Erklärungsmodell widersprochen. Nach Ansicht einiger Fachkollegen sei die Ursache allein bei den Erkrankten selbst zu suchen und die Neurose auf „moralische Minderwertigkeit, Willensschwäche oder ein Haften an Krankheitsvorstellungen zurückzuführen“.
Die Position des ärztlichen Standes habe sich daraufhin radikal verändert, berichten die Leipziger Historiker: Bisher qua Berufsethos zum Heilen und Lindern von Leid verpflichtet, hätten Militärmediziner nun die Aufgabe bekommen, „die vermeintlich moralisch verkommenen, vor dem Krieg in die Krankheit flüchtenden Streitkräfte im Sinne der nationalen Wehrhaftigkeit schnell wieder einsatzfähig zu machen “.
Folgen des Ukraine-Krieges längst in Deutschland angekommen
Was hat dies alles nun mit dem Ukraine-Krieg zu tun? Allein schon die häufigen Berichte der Medien über den Krieg in der Ukraine und die dortigen „Materialschlachten“ mit Granaten, Raketen und auch Panzern erinnern an Berichte über den Ersten Weltkrieg.
Hinzukommen die Bilder von zerstörten Städten in der Ukraine und vor allem die Berichte über Verbrechen, über Massenexekutionen etwa, über Vergewaltigungen…Verschleppung von Kindern, die zwar weniger an den Ersten Weltkrieg erinnern, aber umso mehr an den Zweiten Weltkrieg - und hier insbesondere an das Geschehen in Osteuropa (Polen, Ukraine, Weißrussland, Russland).
Das Kriegsgeschehen in der Ukraine ist für die Menschen in Westeuropa und in Deutschland aber längst nicht nur auf Bilder und Medien-Berichte beschränkt. Manche Folgen sind längst bei uns angekommene Realität.
Denn seit dem Beginn des Ukraine-Krieges am 24. Februar 2022 sind über eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland gekommen - und damit auch viele Menschen mit psychischen Störungen im Sinne eines posttraumatischen Belastungs-Syndroms.
Typische psychische Symptome, von denen traumatisierte oder depressive Flüchtlinge nach Angaben der Psychiaterin berichten, sind nach Angaben von Patricia Fonseca, Oberärztin am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München, Schlafstörungen, Ängste, Übelkeit, Herzrasen, Luftnot und unspezifische Schmerzen, Albträume, depressive oder traurige Stimmungslage sowie Schreckhaftigkeit.
Die Symptome könnten selbst Jahre nach dem belastenden Ereignis auftreten. Insbesondere die Jugendlichen und jungen Erwachsenen gelten laut WHO als eine Hochrisikogruppe.
„Martialische" Trauma-Therapie: die „Kaufmann-Kur“
Mehr als 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg verfügen Ärzte heute jedoch über mehr Wissen zum posttraumatischen Belastungssyndrom (PTBS) und zur Therapie der Betroffenen. Metaanalysen zufolge könne ein kurativer Behandlungserfolg im Sinne einer Remission einer bestehenden PTBS bei etwa 80 Prozent aller Patienten mit bis zu 10 Therapiesitzungen erreicht werden, so der Medizinische Psychologe Dr. Utz Ullmann (BG Klinikum Bergmannstrost, Halle/Saale).
Therapien haben zwar auch die Psychiater der damaligen Zeit schon entwickelt, allerdings äußerst schmerzhafte Therapien, etwa die sogenannte „Kaufmann-Kur“. Das oberste Prinzip des Psychiaters Fritz Kaufmann (1875 - 1941) war, wie der Historiker Philipp Rauh vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg erklärt, die „Heilung“ des „Kriegsneurotikers“ in einer Sitzung.
Die Behandlung habe mit einer suggestiven Vorbereitung begonnen, „in der dem Patienten unmissverständlich die Entschlossenheit des Therapeuten signalisiert wurde". Daraufhin habe Kaufmann den Soldaten „kräftige Wechselströme“ in 3-5-minütigen Intervallen verabreicht, die durch Suggestion in scharfem militärischem Befehlston begleitet worden seien.
„Der gewaltige Schmerzeindruck“ würde, so Kaufmann, den Patienten „in die Gesundung hinein zwingen“. Viele Experten, die Kaufmanns Therapie übernommen hätten, sollen behauptet haben, durch sie über 95 Prozent der Patienten von ihren Symptomen befreit zu haben. Tatsächlich jedoch scheine die Rückfallquote hoch gewesen zu sein. Zudem seien bei diesem Verfahren auch Todesfälle aufgetreten, berichtet der Historiker.
Die Versorgungsrealität: Pragmatismus und Menschlichkeit
Zum Glück sah die Versorgungsrealität im Ersten Weltkrieg anders aus, wie laut Rauh die Auswertung von fast 500 Lazarettakten gezeigt hat: In der untersuchten Stichprobe herrschten mit den Diagnosen „Hysterie“, „Neurasthenie“, „Neurose“, „Granatschock“ sowie mit der Kategorie „nervöse Leiden“ die Krankheitsbezeichnungen vor, die zeitgenössisch unter dem Begriff der „Kriegsneurose“ subsumiert wurden.
Sie bildeten mit 352 Fällen die größte Gruppe. „Klassische Geisteskrankheiten“ wie manisch-depressive Erkrankung oder Schizophrenie spielen demgegenüber nur eine unbedeutende Rolle. Unter den militärpsychiatrischen Leiden waren „Hysterie“ (39 %) und „Neurasthenie“ (36 %) die deutlich häufigsten Nennungen.
Die Auswertung ergab, dass die damaligen Theorien der Basisbehandlung der seelisch erkrankten Soldaten nur teilweise umgesetzt wurden. Die Behandlungspraxis der Ärzte sei im Gegenteil differenzierter gewesen, als es der Tenor der Verlautbarungen habe vermuten lassen, betont Rauh.
Während auf Kongressen oder in Fachzeitschriften fast nur die einschlägige „aktive Kriegsneurotikerbehandlung“ präsentiert und diskutiert worden sei, ging es nach Angaben des Historikers in der alltäglichen Arbeit primär um eine Wiederherstellung der psychischen wie auch der physischen Kräfte mit einfachen roborierenden Maßnahmen. Die Zahlen der Aktenauswertung sprächen eine deutliche Sprache: Nur 24 % der Kriegsneurotiker wurden mit Hilfe einer kombinierten Suggestiv- und Elektrotherapie behandelt.
Am häufigsten seien die neuen drakonischen Therapien bei Soldaten mit der Diagnose „Hysterie“ angewandt worden. Im überwiegenden Maße seien die Soldaten konventionell behandelt worden, im also mit Ruhe und Erholung. Verordnet worden seien vor allem Bettruhe, kräftigende Kost sowie Beruhigungsmittel wie Brom oder Baldrian. Nach der Entlassung aus dem Lazarett seien die meisten Soldaten zunächst zu ihrem Garnisonstruppenteil (30,8 %) zurückgekehrt.
Nur 22 % der psychisch erkrankten Soldaten hätten wieder direkt an die Front gemusst. Weitere knapp 16 Prozent seien als arbeitsverwendungsfähig entlassen und vornehmlich in kriegswichtigen Betrieben eingesetzt worden. In etwa die gleiche Anzahl an Soldaten (15,1 %) habe als „dienstunbrauchbar“ das Heer verlassen.
Rauh: „Die Bemühungen von Politik, Militär und führenden psychiatrischen Fachvertretern um eine effiziente Wiedereingliederung psychisch kranker Soldaten in den Kriegsdienst stießen hier an ihre Grenzen."
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Dieser Beitrag ist im Original erschienen bei Univadis.