Deutschland, deine Praxen: Zwischen Teilzeitarzt und Chefarzt im Dauereinsatz
Die Diskussion um die Zukunft der ambulanten Versorgung im Land ist paradox. Sie mäandert zwischen Selbstständigkeits- und Teilzeitwünschen hin zu angestellten Stellvertretern im Dauereinsatz. Dabei geht es im Kern immer um eins: Die Neujustierung der verfügbaren ärztlichen Arbeitszeit.
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Der folgende Beitrag wird vertreten von der Anwaltskanzlei Broglie & Schade. Redaktion: Sebastian Schmidt
Versorgung ohne Verantwortung und Vereinbarkeit, wie soll das gehen? Die Frage kommt angesichts aktueller Diskussionen zur Zukunft der ärztlichen ambulanten Versorgung schnell auf. Dabei ist es keine einfache Zeit für diejenigen, die aktuell Verantwortung in den Praxen übernehmen und für die, die sie nun weitergeben wollen.
Ebenso schwierig ist es für die jungen Kolleginnen und Kollegen, die ihre Arbeit anders organisieren wollen und müssen, um sie mit den Anforderungen von Gesellschaft und insbesondere Familie verantwortungsbewusst zu vereinbaren.
Dabei stehen sich zwei Seiten gegenüber. Einerseits diejenigen, die den verständlichen Wunsch nach Arbeitszeitreduktion und verlässlichen Arbeitszeiten artikulieren, wohlwissend um die Belastungen vorangegangener Berufsgenerationen. Ein weiterer Grund sind für diese Bestrebungen ist der erfahrene Missbrauch der Arbeitszeitregelungen im Krankenhaussektor.
Über den Autoren:

Hans-Joachim A. Schade ist Fachanwalt für Medizinrecht und Wirtschaftsmediator von der Rechtsanwaltskanzlei “Broglie, Schade & Partner GbR” mit den Sitzen in Wiesbaden, Berlin und München.
Auf der anderen Seite artikuliert so manch ein Praxisinhaber in der Rolle als Arbeitgeber Individualvereinbarungen mit angestellten Medizinerinnen und Medizinern, die es gestatten, ambulante Chefarztposten zu schaffen. Andere wittern da direkt die Gefahr von Angestelltenverhältnissen mit „unbegrenztem Zeiteinsatz“.
Wunschbild: Teilzeitarzt in der eigenen Praxis
Ein gutes Beispiel für die veränderten Vorstellungen zur Arbeitszeit liefert eine Befragung der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) und des Berufsverbands der Augenärzte Deutschlands (BVA).
Das Ergebnis: Jüngere Ophthalmologinnen und Ophthalmologen, insbesondere, wenn sie bereits im ambulanten Bereich tätig sind, wollen gerne in einer eigenen Praxis arbeiten. Auf den ersten Blick ist das eine gute Nachricht.
Doch damit einher geht der Wunsch nach Teilzeitarbeit. So wünschen sich 47% der befragten Augenärztinnen eine Arbeitszeit von 21 bis höchstens 30 Stunden, ihre Kollegen 30 bis 39 Wochenarbeitsstunden. Sie wünschen sich also, eine eigene Arztpraxis in Teilzeit zu führen. Geht das überhaupt? Die Antwort lautet oft genug wohl: Nein! Denn der häufigste Grund gegen eine Selbstständigkeit ist laut der Umfrage die zeitliche Belastung.

Immer weniger Ärztinnen und Ärzte gehen den Weg in die Niederlassung. Dagegen wird immer öfter ein Angestelltenverhältnis angestrebt. Dies sind die Ergebnisse einer aktuellen Analyse der Stiftung Gesundheit.
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Auch eine Untersuchung der Apo-Bank bestätigt den Trend zur Teilzeit über alle Fachgruppen hinweg. Und die Gründe sind hier ebenfalls die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf als wichtigster Faktor (56%) für eine ärztliche Angestelltentätigkeit. Es folgt die feste Verteilung von Arbeits- und Freizeit mit 42%.
Kammern und Kassenvereinigungen reagierten darauf mit der Einführung der erweiterten Delegation durch akademisierte Arztassistenten und Physician Assistants (PA). So versuchen sie strukturell Teilzeitärzte zu entlasten und damit dem öffentlichen Versorgungsauftrag gerecht zu werden. Ob das gelingt, bleibt abzuwarten.
Flexiblere und reduzierte Arbeitszeit: Herausforderung für die Gesellschaft
Ein weiterer Faktor verschärft die Situation noch: Seit Jahren füllt der Mangel bei Personal in Kindertagesstätten, Schulen und Seniorenhäusern Schlagzeilen und verschärft indirekt auch die ärztliche Grundversorgung der Bevölkerung. Denn medizinisch Arbeiten ohne eine Versorgung von Nachwuchs, Eltern und Verwandter stellt die jungen Kolleginnen und Kollegen vor Herausforderungen, die mit einer Selbstständigkeit als nicht vereinbar erscheinen.
Dabei verspricht die Politik die entsprechenden Stellen für familienfreundliche Arbeitsplätze, kann aber diese Versprechen nicht einhalten. So entsteht für die Ärzte und Ärztinnen, die für Kinder und soziale Beziehungen verantwortlich sind, ein ständig sich verschärfender Zielkonflikt und die „guten Taten der Sozialgesetzgebung“ werden zum Fluch für die Berufswünsche der Ärzte und Ärztinnen die medizinische Versorgung der Bevölkerung.
Alternative: Anstellung in größeren Einheiten
Die Folge ist, dass die jungen Kolleginnen und Kollegen mit den Füßen abstimmen. Beeindruckend sind hier auch die schieren Zahlen aus der Studie der Apo-Bank. Danach wollen nur 10 % der Ärztinnen und Ärzte in einer Einzelpraxis langfristig tätig sein. 63% entscheiden sich für die Zusammenarbeit in einer Berufsausübungsgesellschaft (BAG) und 20% sehen ihre Zukunft in einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ).

Zu viel Versorgungsbedarf und viel zu wenig Zeit für das, wofür man ausgebildet wurde, nämlich die medizinische Arbeit am Menschen, darüber beschweren sich viele Praxisinhaber mit Recht. Eine Lösung könnten teambasierte Praxen sein mit Vorteilen für alle – nicht zuletzt, weil so der Wert der Praxis steigerbar ist.
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Übernimmt der ambulante Chefarzt die Verantwortung?
Bei den sich so verändernden Strukturen stellt sich zugleich die Frage, wer zukünftig die Verantwortung für die ärztliche Arbeit im niedergelassenen Bereich übernimmt. Denn gleichzeitig gibt es einen erhöhten Bedarf an Arbeitszeit und Verantwortung. Ein vieldiskutierter Vorschlag ist der „ambulante Chefarzt“.
Doch was steckt dahinter? Der Begriff des Chefarztes ist, obgleich er in verschiedenen Gesetzen erwähnt wird (vgl. §18 Abs.1 Nr. 1ArbZG) gesetzlich nicht definiert. Konsens ist jedoch, dass der Chefarzt eine ärztliche Führungskraft im stationären Bereich ist. Ob nun aber im niedergelassenen Bereich der ärztliche Leiter mit Führungsverantwortung dem hergebrachten Bild des Chefarztes gleichgesetzt werden kann, ist bisher offen.
Die Folgen aber könnten immens sein. Wäre dies der Fall, läge eine Herausnahme auch bestimmter Gruppen von ärztlichen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im ambulanten Sektor aus dem Anwendungsbereich des Arbeitszeitgesetzes nahe. Denn der stationär tätige Chefarzt ist nicht an das Arbeitszeitgesetz gebunden!
Ganz einfach dürfte es also auch mit dem „ambulanten Chefarzt“ nicht werden. Zumal hier auch arbeitsrechtliche Aspekte in den Fokus rücken. Nähert sich die Tätigkeit der Funktion des selbstständigen Praxisinhabers, gilt es neben Einsatz von nichtärztlichen Mitarbeitern, der Übernahme von Verwaltungstätigkeiten, Konkurrenzschutz, Vergütung und Tantieme auch über eine Opt-Out-Regelung zu sprechen.
Die Rechtsanwaltskanzlei „Broglie, Schade & Partner GbR” veranstaltet am 29. März 2023 von 18 bis 19.30 Uhr ein Online-Seminar für Ärzte, Zahnärzte und alle Unternehmer in der ambulanten Versorgung.
Das Online-Seminar unterteilt sich in 3 Themenblöcke:
- Das BAG-Urteil zur Zeiterfassung mit Tipps für de Praxis
- Die aktuelle Situation von Voll- und Teilzeitarbeit in der ambulanten medizinischen Versorgung – Zahlen und fakten
- Der Arbeitsvertrag mit dem ambulanten Chef- und Oberarzt

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