Titelbild von Praxismanagement
Logo von Praxismanagement

Praxismanagement

10. Sep. 2019
Dr. Matthias Thöns über das deutsche Gesundheitssystem:

,,Da wird schlichtweg nur noch Umsatz gemacht!”

215 Ärzte fordern in der aktuellen STERN-Ausgabe die Abschaffung oder grundlegende Reform des Fallpauschalensystems. Wir haben mit Dr. med. Matthias Thöns, Palliativmediziner und Mitinitiator dieser Medienkampagne, über die Baustelle namens ,,DRG-System” gesprochen.

Lesedauer: ca. 4 Minuten

Dr. med. Matthias Thöns ist Arzt für Anästhesiologie, Notfall- und Palliativmedizin und Mitinitiator des Ärzte-Appels “Rettet die Medizin!”
Dr. med. Matthias Thöns ist Arzt für Anästhesiologie, Notfall- und Palliativmedizin und Mitinitiator des Ärzte-Appels “Rettet die Medizin!”

Interviewfragen: Dr. med. Horst Gross, Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin

Wie kam diese Medienkampagne für eine menschlichere Medizin zustande?

Dr. Thöns: Zahlreiche Organisationen haben sich 2018/2019 kritisch zum Diktat der Ökonomie geäußert. Der STERN hat daraus ein Manifest formuliert und die Unterstützer versammelt. Zuerst waren es 215, am ersten Wochenende nach Erscheinen schon über 1000, darunter Fachgebiets- und Ärztekammerpräsidenten. Ich hoffe, beim STERN melden sich noch viele Kollegen. Den STERN-Artikel und die Hintergründe des Ärzte-Appels finden Sie hier.

Sie nehmen bei Ihrer Kritik kein Blatt vor den Mund. Kritiker bezeichnen Sie als Nestbeschmutzer…

Dr. Thöns: Mir wird vorgeworfen, dass ich nur Einzelfälle herausgreife. Deutschland hätte doch ein wunderbares Medizinsystem. Leider stimmt das nicht. Im internationalen Ranking sind wir nur unteres Mittelmaß. Dazu kommt ein massives Problem mit sinnloser Medizin. Aktuelle Einschätzungen in der Literatur etwa lassen vermuten, dass 50-90 % der Intensivtherapien am Lebensende nichts anderes sind, als Übertherapie. Ich habe in meinem Buch sehr früh auf diese Fehlentwicklungen hingewiesen. Damals wurde ich beschimpft. Heute erkennen immer mehr Kollegen, aber auch die Fachgesellschaften, dass meine Kritik den Nagel auf den Kopf trifft. 

Worin sehen Sie das Hauptproblem?

Dr. Thöns: Das DRG-System ist gescheitert. Die Politik wollte damit ineffektive Kliniken in den Ruin drängen. Stattdessen haben die Häuser mit massiver Leistungsausweitung reagiert. In Berlin werden z. B. an über 40 Kliniken Zwei-Höhlen-Eingriffe durchgeführt. Eine absurde Entwicklung. Ohne Routine sind miserable Resultate vorprogrammiert. Oder nehmen wir die Wirbelsäulenchirurgie: Im Zweitmeinungsverfahren erweisen sich 80 % dieser Eingriffe als überflüssig. Da wird schlichtweg Umsatz gemacht, auf Kosten der Patienten. 

Umfragen zeigen, dass die Bevölkerung mit dem heutigen Gesundheitssystem zufrieden ist. Ist die Kritik nicht überzogen?

Dr. Thöns: Das sehe ich anders: Der Boom der Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten ist doch ein klares Misstrauensvotum. Dem Arzt am Krankenbett traut man offenbar nicht mehr zu, dass er sinnlose Therapien unterlässt. Dieser Vertrauensverlust ist eine Katastrophe. Die Menschen wollen nicht als Fall behandelt werden, aus dem man wirtschaftlich das Optimale herausholt. Die Zeit ist also durchaus reif für eine grundsätzliche Debatte.

Was will die aktuelle Kampagne bewirken? 

Dr. Thöns: Wir sind mit dem DRG-System viel zu weit über das Ziel hinaus geschossen. In keinem anderen Land der Welt wird die Krankenhausfinanzierung nur über Fallpauschalen abgerechnet. Wir brauchen mehr Mischfinanzierung durch den Staat. Der wirtschaftliche Druck muss raus aus der Medizin. Gesundheitspolitisch mangelt es an konsequentem Handeln. 

Was heißt das konkret?

Dr. Thöns: Die Politik muss den Mut aufbringen, Kliniken dichtzumachen. In den Ballungsgebieten muss die Überversorgung beendet werden. Notwendige Kliniken in der Fläche dagegen müssen subventioniert werden. Über Marktmechanismen regelt sich das nicht, wie wir ja eindrucksvoll sehen. Klar macht sich die Politik nicht beliebt, wenn sie Kliniken schließt. Aber alles weiter treiben zu lassen, ist auch keine Alternative. 

Digitalisierung soll Ärzten mehr Zeit für Patienten geben. Ist das keine Lösung?

Dr. Thöns: Das ist ein Trugschluss. Solange wir im falschen Anreizsystem sind, bringt mehr Zeit nichts. Die Ärzte werden nicht länger mit ihren Patienten sprechen, sondern der wirtschaftliche Druck wird weiter für mehr sinnlose Diagnostik und Therapie sorgen. Man muss die Kliniken aus der mörderischen Tretmühle der DRGs befreien. Das ist die einzig wirklich hilfreiche Option. 

Eine Umstellung des DRG-Systems kann lange dauern. Was soll in der Zwischenzeit geschehen? 

Dr. Thöns: Die Zweitmeinungsinitiative der Krankenkassen ist sehr hilfreich, auch im Bereich der Intensivmedizin. Mit Kollegen zusammen haben wir eine solche Initiative gestartet. Angehörige können sich an uns wenden. Wir überprüfen dann gutachterlich, ob die aktuelle Intensivtherapie indiziert und gewollt ist.

Ist das wirkungsvoll?

Dr. Thöns: Und wie! Oft reicht schon ein Fax mit den ermittelten Behandlungswünschen und die Bitte um die Behandlungsakte, und plötzlich wird das Therapieziel auf palliativ geändert. Die Kliniken kennen offenbar den ethischen Mangel einiger Behandlungen nur zu gut. Eine echte Problemlösung ist das aber nicht: Die wirtschaftlichen Fehlanreize müssen weg.

Möchten Sie den Mediziner-Appell namentlich unterstützen?

Falls Sie den Mediziner-Appell namentlich unterstützen wollen, schreiben Sie an [email protected] Die Liste der Unterzeichner wird auf stern.de veröffentlicht. Um überprüfen zu können, dass Sie wirklich Ärztin oder Arzt sind, benötigen STERN von Ihnen folgende Angaben (nur Punkt 1-3 wird veröffentlicht):

  1. Den vollständigen Namen
  2. Facharztbezeichnung und Funktion
  3. Arbeitsort
  4. Arbeitgeber
  5. E-mail von einem verifizierbaren Account (z.B. Ihre Praxis, Ihr Arbeitgeber)
  6. Hilfreich: Website-Auftritt Ihrer Praxis oder Ihres Arbeitsgebers mit Angaben zu Ihnen

Sollten Sie Beispiele beobachten, die zeigen, wie wirtschaftliche Zwänge ärztliche Entscheidungen beeinflussen, schreiben Sie gern auch dies. STERN nimmt dann vertraulich Kontakt zu Ihnen auf.

Quellen anzeigen
Impressum anzeigen