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Praxis digital

22. Sep. 2022
Verloren im Dschungel digitaler Neuerungen?

3 Expertentipps für die Arztpraxis 

Der Bedarf nach digitalen Lösungen für die Arztpraxis ist hoch – doch die Einführung neuer Tools kann herausfordernd sein. Digitalexpertin Jessica Birkmann liefert Tipps, mit denen die Umstellung gelingt.

Lesedauer: ca. 5 Minuten

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Redaktion: Nathalie Haidlauf

Frau Birkmann, wie blicken Sie derzeit auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens? Über welche bereits erreichten Meilensteine freuen Sie sich?

Birkmann: Also die Zeit momentan ist ja sehr spannend. Wir haben gerade die Legislaturperiode mit dem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hinter uns, der bereits viele Digitalisierungsvorhaben angestoßen hat. Die große Zahl an Lösungen zeigt sich schon im ärztlichen Alltag. Inzwischen kann man mit den vielen Abkürzungen regelrecht Bingo spielen: DiGA (digitale Gesundheitsanwendungen), EPA (elektronische Patientenakte), KIM (Kommunikation im Medizinwesen) – all diese Begriffe sind mehr und mehr Ärztinnen und Ärzten und Praxismitarbeitenden bekannt. Und das ist schon ein erster großer Meilenstein.

Und welcher große Schritt ist aus Ihrer Sicht jetzt besonders dringend?

Birkmann: Was jetzt noch fehlt, ist, dass diese Anwendung auch in einen sinnvollen Nutzen gebracht werden. Viele Lösungen sind noch in der ersten Ausbaustufe in der Arztpraxis. Das bedeutet, sie verursachen zwar bereits Aufwände und Kosten. Doch der Nutzen für die Patientenversorgung – was ja die eigentliche Aufgabe ist – der ist noch nicht gegeben. Und das ist es, was jetzt im nächsten Schritt angegangen werden muss. Das neue Bundesgesundheitsministerium ist gerade dabei, ein Zielbild anzustoßen, um die vielen digitalen Anwendungen in einen vernünftigen Zusammenhang zu bringen und den Versorgungsmehrwert aufzuzeigen.

Was sind in puncto Digitalisierung die größten Herausforderungen für junge Ärztinnen und Ärzte, insbesondere für diejenigen, die sich niederlassen möchten?

Birkmann: Hier gibt es jede Menge Herausforderungen. Wenn ich eine bereits vorhandene Praxis übernehme, dann habe ich schon eine gewisse IT-Ausstattung in der Praxis – und ich habe ein eingespieltes Team, das gut funktioniert. Und in dieser Situation ist es ganz wichtig, dass ich da nicht einfach mit meiner digitalaffinen modernen Brille in die Praxis komme und einmal alles umkrempeln möchte. Denn das ist in der Regel mit sehr hohen Aufwänden verbunden und kann unter Umständen auch das Praxispersonal verprellen. Ich sollte mir also genau anschauen: Wie laufen die Prozesse aktuell ab? Wo gibt es Optimierungsbedarf? Und dann schaue ich mir am besten mit meinem IT-Partner, den in der Regel jede Praxis hat, an, welche Lösungen es gibt, um alle zufriedenzustellen.

Birkmann

Jessica Birkmann ist als Referentin Politik und Verbände bei der medatixx GmbH & Co. KG tätig. Sie ist in den Arbeitsgremien der Branchenverbände, wie dem Bitkom e. V. oder dem Bundesverband Gesundheits-IT (bvitg e. V) vertreten. Am 28.9. ist sie Referentin bei der digitalen Fortbildung DigiSpezial.

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Gibt es auch spezielle Dinge, die es bei der Praxisneugründung zu beachten gibt?

Birkmann: Wenn die Praxis neu gegründet wird, habe ich einen komplett anderen Fall, dann starte ich bei null und kann mir aus einem breiten Markt alles zusammensuchen. Es gibt über 100 Anbieter von Praxissoftware, d. h. als Ärztin oder Arzt kann ich mir aus einem breiten Spektrum aussuchen, was ich haben möchte und was zu meiner Fachrichtung passt. Dabei sollte ich jedoch immer im Kopf behalten, dass die Technik allein nicht genügt. Es ist schwierig, wenn plötzlich eine topmoderne Anwendung in der Arztpraxis zur Verfügung steht, aber niemand weiß, wie man sie bedienen soll. Ich sollte also bei allen Angeboten vorab prüfen, wie das Komplettpaket aussieht. Ist die Kundenbetreuung mit abgedeckt? Wie sehen die Schulungs- und Begleit-Angebote aus?

Das ist vermutlich für alle Ärztinnen und Ärzte ein wichtiger Punkt: das Praxisteam von Anfang an gut abzuholen, damit die Umstellung gelingt.

Birkmann: Ja, absolut. Denn im Team sind unter Umständen Leute, die – überspitzt gesagt – schon seit 20 Jahren immer auf denselben Knopf drücken. Wenn ich also über die Köpfe des Teams hinweg auf Biegen und Brechen versuche, einen Prozess umzustellen, etwas neu einzuführen, dann kann es durchaus Kündigungen geben. Und nichts wäre schlimmer, als wenn Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter kündigen, weil sie mit der Systemumstellung nicht klarkommen, weil sie sich nicht abgeholt fühlen, sie nicht einbezogen wurden. Praxisfachangestellte sind aktuell das höchste Gut in Arztpraxen.

Systemumstellungen sind in der Realität mit Zeit und Aufwand verbunden. Ist eine gewisse Skepsis gegenüber dem Digitalen auch eine Frage des Alters oder beobachten Sie das generationenübergreifend?

Birkmann: Ich würde sagen, die jüngeren Kolleginnen und Kollegen bringen einen höheren Bedarf mit. Stellen wir uns einmal junge Menschen vor, die im Krankenhaus in der Pflege arbeiten – die lassen zu Schichtbeginn teilweise ihr Handy am Empfang liegen und gehen komplett auf Papierdokumentation über. Es ist klar, dass der Anspruch dieser jungen Menschen eigentlich ein komplett anderer ist. Und auch wenn ich mich als junge Ärztin oder junger Arzt niederlasse oder in die Anstellung gehe, habe ich heute den Anspruch, Verwaltungsakte nicht mehr telefonisch oder auf Papier erledigen zu müssen.

Dabei geht es nicht um große Meilensteine in der Digitalisierung. Es geht darum, dass es gelebte Realität wird, dass heutzutage niemand mehr eine halbe Stunde in der Warteschleife hängen muss, um einen Arzttermin vereinbaren zu können. 

Haben Sie abschließend noch einen speziellen Tipp für Ärztinnen und Ärzte, die sich im Dschungel der digitalen Neuerungen nicht zurechtfinden?

Birkmann: Ich würde sagen, es ist hilfreich, sich frühzeitig mit neuen Lösungen zu beschäftigen. Natürlich wird es beispielsweise beim e-Rezept noch nicht direkt ab Stunde null zur Arbeitserleichterung kommen. Es wird noch etwas ruckeln, es wird Übung brauchen, aber es hilft, sich früh damit zu befassen. Denn in der Regel geht es bei einer digitalen Neuerung nicht nur um eine neue Funktionalität in der Software, sondern es müssen auch damit verbundene organisatorische Prozesse angepasst werden. Daher lautet mein Tipp: Machen Sie sich früh mit neuen Lösungen vertraut – das reduziert den Stress, wenn die Einführung dann tatsächlich kommt.

Die 3 Tipps auf einen Blick

  • Machen Sie sich mit neuen Lösungen vertraut, bevor sie eingeführt werden
  • Beziehen Sie Ihr Praxisteam frühzeitig mit ein
  • Nehmen Sie Schulungsangebote Ihres Anbieters in Anspruch

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