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Pädiatrie kompakt

13. Feb. 2023
Studie in "Pediatrics"

Mehr Autismus-Fälle bei Kindern

Weltweit werden immer mehr Autismus-Spektrum-Störungen gemeldet. So berichtet eine aktuelle Studie aus den USA über einen Diagnose-Anstieg um 500 % seit 2000. Über die Gründe wird in der Wissenschaft jedoch kontrovers diskutiert. 1,2

Lesedauer: ca. 7 Minuten

Kind mit Autismus
Laut einer US-Studie ist die Prävalenz von Autismus-Spektrum-Störungen drastisch gestiegen. (Foto: Katarzyna Bialasiewicz | Dreamstime.com | Symbolbild)

Redaktion: Dr. Nina Mörsch

Der Studie im Fachblatt „Pediatrics“ zufolge sind die Fälle von Autismus-Spektrum-Störungen (ASD) in der Metropolregion New York-New Jersey zwischen 2000 und 2016 um bis zu 500 Prozent gestiegen. Der höchste Anstieg war demnach bei autistischen Kindern ohne geistige Behinderung zu verzeichnen. Den Grad der kognitiven Einschränkung bestimmten die Forschenden anhand des Intelligenzquotienten. Als Datengrundlage diente das Autism and Developmental Disabilities Monitoring Network (ADDM) der US-Gesundheitsbehörde CDC.

In vier Stadtbezirken identifizierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 4661 Kinder im Alter von acht Jahren mit Autismus-Spektrum-Störungen. Von diesen hatten 1505 (32,3 Prozent) eine geistige Behinderung, 2764 (59,3 Prozent) hatten keine. In 9 % der Fälle (398) war der intellektuelle Status nicht bekannt. Die Rate von ASD bei gleichzeitiger geistiger Behinderung hat sich zwischen 2000 und 2016 mehr als verdoppelt – von 2,9 pro 1000 Kinder auf 7,3. Die Rate von ASD ohne geistige Behinderung verfünffachte sich – von 3,8 auf 18,9.

Eher Jungen als Mädchen betroffen

ASD trat eher bei Jungen als bei Mädchen auf und betraf alle ethnischen Zugehörigkeiten. Wobei der größte Anstieg bei afroamerikanischen und hispanischen Kindern mit ASD ohne geistige Behinderung zu verzeichnen war. Je höher das Einkommen der Eltern war, desto eher wurde bei Kindern ASD ohne kognitive Einschränkung diagnostiziert. Autistische Kinder mit kognitiven Einschränkungen lebten dagegen eher in unterversorgten, armen Gemeinden.

Autismus-Spektrum-Störungen entwickeln sich in frühkindlichen Jahren und beeinträchtigen die soziale Interaktion, die Kommunikation und einige Verhaltensmuster. Es gibt verschiedene Ausprägungen und Schweregrade. Wie häufig Autismus-Spektrum-Störungen vorkommen, ist global nicht eindeutig beschrieben. Der US-Gesundheitsbehörde CDC zufolge lag die Prävalenz in den USA im Jahr 2018 bei 23 pro 1000 Kindern (ein Fall pro 44 Kinder). Im Jahr 2000 betrug die Rate noch 6,7 [II].

Erhöhte Aufmerksamkeit, verbesserte Diagnoseverfahren

Dass weltweit immer mehr Autismus-Spektrum-Störungen gemeldet werden, ist offenkundig. Über die Gründe wird in der Wissenschaft jedoch kontrovers diskutiert. In erster Linie dürften die erhöhte Aufmerksamkeit, verbesserte Diagnoseverfahren und genauere Definitionen für die steigenden Zahlen verantwortlich sein. Die genaue Ursache für Autismus ist bislang nicht erforscht, genetische Faktoren spielen aber eine entscheidende Rolle. Als widerlegt gelten heute Vermutungen, Autismus entstehe durch lieblose Erziehung („Kühlschrankmutter“) oder durch Impfstoffe. Der Einfluss der Umwelt ist dagegen noch nicht ausreichend untersucht. Ob es also tatsächlich immer mehr Autismus-Fälle gibt oder diese lediglich durch den technischen und gesellschaftlichen Wandel schneller, früher und öfter auffallen, ist nicht endgültig geklärt.

Auch die Autorinnen und Autoren der „Pediatrics“-Studie haben keine Antwort darauf. In einer Pressemitteilung der für die Studie zuständigen Rutgers University heißt es, dass der 500-prozentige Anstieg von Autismus bei Kindern ohne geistige Behinderungen nicht allein durch erhöhte Aufmerksamkeit und bessere Tests zu erklären sei, sondern „auch etwas anderes“ Teil der Ursache sein könnte. Weitere Forschung sei nötig.

Forschende haben gegenüber dem Science Media Center die aktuellen Studienergebnisse eingeordnet und über den Stand der Ursachenforschung zu den gestiegenen Autismus-Fallzahlen berichtet. Lesen Sie im Folgenden 2 Stellungnahmen:

Dr. Sanna Stroth

Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Philipps-Universität Marburg

„Die Studie beschreibt einen deutlichen Anstieg der Prävalenzzahlen für Autismus in den Jahren zwischen 2000 und 2016 von 0,6 auf 2,3 Prozent. Dabei verfünffachte sich die Zahl der Fälle von Autismus ohne Intelligenzminderung, während sich die Anzahl der Fälle von Autismus kombiniert mit einer Intelligenzminderung verdoppelte. Es fällt auf, dass Autismus ohne Intelligenzminderung in der weißen und wohlhabenden Bevölkerung den größten Anstieg aufweist. Die Prävalenz von Autismus kombiniert mit einer Intelligenzminderung stieg ebenfalls an – vor allem in weniger wohlhabenden Stadtteilen und einer vornehmlich afroamerikanischen und hispanischen Bevölkerung.“

„Insbesondere der Anstieg der Prävalenzzahlen von Autismus ohne Intelligenzminderung ist bemerkenswert – vor dem Jahr 2000 machten diese Fälle lediglich rund 25 Prozent der Fälle aus. Bei bis zu 75 Prozent der Fälle lag Autismus kombiniert mit einer Intelligenzminderung vor. Im Jahr 2016 hat sich das Verhältnis verschoben und es wird nur noch bei 40 Prozent der Autismus-Fälle eine Intelligenzminderung beobachtet. Die Autorinnen und Autoren interpretieren das als eine Verbesserung in der Erkennung von Autismus ohne Intelligenzminderung. Diese Schlussfolgerung ist allerdings aufgrund der verschiedenen Verzerrungen in der Datengrundlage so nicht zulässig.“

„Um diese Daten einordnen und interpretieren zu können, muss man allerdings wissen, wie sie zustande kommen. Die Daten der vorliegenden Studie beruhen auf dem ADDM-Netzwerk (Autism and Developmental Disabilities Monitoring Network). Dieses Netzwerk ist durch die CDC (Centers for Disease Control and Prevention), eine nationale Behörde des Gesundheitsministeriums, ins Leben gerufen worden, um Daten zur Prävalenz, aber auch deren Veränderung sowie die nationale Verteilung zu erfassen. Zu diesem Zweck sammelt das ADDM alle zwei Jahre verfügbare Informationen aus Krankenakten, Schulakten und sonstigen Dokumenten. Die betreffenden Individuen werden nicht klinisch untersucht. Die verfügbaren Akten werden oberflächlich durchgeschaut (,screening‘) und alle Individuen als ,Fälle‘ klassifiziert, deren Akten den Vermerk einer Diagnose oder eines besonderen Förderbedarfs oder Beschreibungen von Verhaltensweisen, die den diagnostischen Kriterien der Klassifikationssysteme (DSM-IV) entsprechen, enthalten. Auf diese Weise fallen auch solche Individuen in die Kategorie ,Autismus-Fall‘, die keine Diagnose oder aber eine andere Diagnose haben, oder bei denen nach einem Verdacht auf Autismus die Diagnose sogar ausgeschlossen wurde. Klinische Validierungsstudien haben gezeigt, dass mehr als 20 Prozent der aus der Aktenlage erfassten Fälle gar keinen Autismus (beziehungsweise die Diagnose) haben.“

„Neben der Verzerrung durch die ungenaue Identifizierung von ,Fällen‘ unterliegt die Datenbasis weiteren Verzerrungen. Etwa Verzerrung durch Selektion: Solche Individuen, in deren Akten keine stichwortartigen Hinweise auf Autismus vorliegen, werden nicht weiter betrachtet. Damit ist nicht möglich, zu überprüfen, ob hier eine systematische Selektion vorliegt. Zum Beispiel ist bekannt, dass ein höherer sozioökonomischer Status mit einer stärkeren Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen einhergeht, was dazu führen könnte, dass die Kinder von minorisierten Gruppen aus dem Datensatz ausgeschlossen werden.“

„Dann besteht noch die Verzerrung durch den Erhebungszeitpunkt: Das Screening der Akten findet im Alter von acht Jahren statt – mit der Begründung, dass in diesem Alter Auffälligkeiten im Sinne des Autismus vorhanden sein sollten. Dies berücksichtigt nicht, dass autistische Auffälligkeiten in der frühen Entwicklungsphase bereits vorhanden sein müssen, um die Diagnose zu rechtfertigen. Im Alter von acht Jahren treten außerdem im Schulalltag viele andere sozial-emotionale Probleme auf, die auf andere psychopathologische oder psycho-soziale Bedingungen zurückgeführt werden können und nun fälschlich einer Autismus-Diagnose zugerechnet werden.“

„Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die vorliegende Studie zwar methodisch gut durchgeführt ist und Trends über die Zeit abbildet. Allerdings sind die Prävalenzzahlen nur unter Berücksichtigung der methodischen Komplexität und der verschiedenen Verzerrungen in der Datenbasis zu interpretieren.“

„Die Ursache für den Anstieg der Prävalenzzahlen ist vielfältig und nicht auf einen einzelnen Faktor zurückzuführen. Insbesondere eine Sensibilisierung und Aufklärung über das Störungsbild sowie eine zunehmende Präsenz in den Medien – beispielsweise durch die Einführung einer autistischen Puppe in der amerikanischen Sesamstraße – spielen eine Rolle. Das zunehmende Wissen um die Symptomatik der Autismus-Spektrum-Störung führt zu einer früheren Diagnostik und einer entsprechend früheren Förderung und Behandlung – was im Laufe der Zeit die Prävalenzraten steigen lässt. Außerdem hat die zunehmende Sensibilisierung einen Einfluss auf die Inanspruchnahme von Hilfsangeboten seitens der Bevölkerung (besorgte Eltern). Gleichzeitig haben sich die diagnostischen Kriterien erweitert, sodass vor allem mildere Formen von Autismus ohne Intelligenzminderung häufiger diagnostiziert werden.“

„In Deutschland steht eine Vielfalt an therapeutischen Verfahren zur Verfügung. Für die Kernsymptomatik der Autismus-Spektrum-Störung gibt es allerdings bis heute kein Verfahren, das einen völligen Rückgang der Symptomatik erreichen könnte. Die aktuellen S3-Leitlinien zur Therapie empfehlen grundsätzlich verhaltenstherapeutisch-übende Verfahren, da für solche Verfahren die besten Wirksamkeitsnachweise vorliegen. Dabei sollten entsprechend des Entwicklungsstandes, der Sprachentwicklung sowie der kognitiven Leistungsfähigkeit individuelle Behandlungsschwerpunkte gesetzt werden. Die Behandlung der Kernsymptomatik selbst wird über die Eingliederungshilfe-Verordnung geregelt, während eine psychotherapeutische Behandlung von begleitenden psychischen Störungen über die Krankenkassen läuft. Die Tatsache, dass an der Behandlung und Begleitung von Menschen mit Autismus häufig unterschiedliche Institutionen und Kostenträger beteiligt sind, erschwert den Prozess und macht eigentlich ein qualifiziertes Fallmanagement notwendig.“

Dr. Katja Albertowski

Oberärztin in der Autismusambulanz, Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden

„Eine Schwäche der Studie ist, dass dort keine genauen Abgaben zum Diagnostikstandard außer der Erfüllung der Klassifikationskriterien durch Experten gemacht werden. Die höheren Prävalenzen sind anteilig, aus meiner Sicht, durch ,Statusdiagnostik‘ zu einem Zeitpunkt mit guten, aber nicht perfekten Testungen (ADI-R, ADOS-2, diagnostisches Interview und Beobachtungsskalen für autistische Störungen; Anm. d. Red.), erklärbar. Je nach Lebensalter zur Erstdiagnostik müssten Differenzialdiagnosen besser überprüft werden. Nachuntersuchungen nach Hilfezuordnung sollten in jedem Lebensalter Standard werden. Zentren, die nur Diagnostik machen, sehen kaum Verläufe.“

„Die Ursachen für Autismus sind bis heute nicht weiter aufgeklärt, die Humangenetik gewinnt an Bedeutung in der Einzelfallbetrachtung. Neben bekannten gibt es auch weitere unbekannte/nicht identifizierte Risikofaktoren mit (unspezifischem) Einfluss auf die Entwicklung des zentralen Nervensystems.“
„Soziale Isolation durch Lebensstile und Medienkonsum sowie die Förderung von Egozentrik können bei höherfunktionalen Kindern und Jugendlichen zu sozialen und emotionalen Auffälligkeiten führen, die wie Autismus wirken können. Auch das ist eine Erklärung für die hohe Prävalenz in den vergangenen Jahren.“
„Bisher gibt es keine kausale Therapie gegen Autismus. Mit den bisherigen Therapien beeinflusst man bestmöglich die kognitive und soziale Entwicklung der Kinder, eine Verbesserung der Basissymptomatik durch frühe Therapie steht gerade infrage und wird zum Beispiel an der Uniklinik Frankfurt erforscht [1]. In Deutschland bestehen grundsätzlich aber weiterhin Versorgungsmängel bezüglich verfügbarer Diagnostik und therapeutischer Versorgung.“

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