Akutschmerztherapie bei Kindern: Welches Medikament, wie & wann?
Die moderne Akutschmerztherapie bei Kindern ist ein komplexes System aus pharmakologischen Strategien inklusive Notfallmanagement und nicht-pharmakologische Maßnahmen, die auch die Familie einbezieht. Worauf Ärztinnen und Ärzte bei der Medikamentengabe achten sollten.
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Der folgende Beitrag von Dr. med. Sofia Apostolidou stammt aus dem „DIVI Jahrbuch 2022/2023“ und erscheint hier in redigierter Fassung mit freundlicher Genehmigung der Medizinisch Wissenschaftlichen Verlagsgesellschaft (MWV). Redaktion: Sebastian Schmidt
Die Grundprinzipien der Akutschmerztherapie bei Kindern sind, ähnlich wie beim Erwachsenen, die Erkennung, Quantifizierung und Dokumentation von Schmerz, das zügige Einleiten schmerztherapeutischer Maßnahmen und die Prävention bzw. das Erkennen und Behandeln therapieassoziierter Nebenwirkungen.
Die Folgen unbehandelter Schmerzen können gravierend sein, von Organfunktionsstörungen bis hin zu Verlust von Hirnsubstanz. Schmerz muss als komplexe Erfahrung mit Interaktion zwischen biologischen, kognitiven, psychologischen und sozialen Faktoren angesehen werden.1,2
Daher besteht eine moderne Schmerztherapie aus einer Kombination aus systematisch evaluierten pharmakologischen Strategien und einem individuellen Behandlungskonzept, welches auch nicht-pharmakologische Maßnahmen beinhaltet.3 Entsprechend sollten neben der unidimensionalen Messung der Schmerzintensität und Identifizieren des jeweiligen Schmerzmechanismus auch der psychologische Entwicklungsstand und die sozialen Umstände mitberücksichtigt werden.4
1. Pharmakologische Interventionen
Ohne das Messen und Dokumentieren von Schmerz kann kein Konzept der Schmerztherapie erstellt werden. Wann immer es das Alter und der Entwicklungsstand der Patientinnen und Patienten erlauben, sollten Selbstwahrnehmungsskalen zur Quantifizierung von Schmerzen favorisiert werden.5 Grundsätzlich können akute Schmerzen entsprechend der nozizeptiven Stimulation und nach zentral aufsteigend durch verschiedene Techniken und Medikamente behandelt werden:
- Peripheres Gewebe und Nerven: Lokalanästhetika, Nicht-Opioid-Analgetika, Adjuvantien
- Rückenmark: Regionalanästhesie (peripher und neuroaxial), Adjuvantien
- Kortikal: systemische Opioide
Die Auswahl der passenden Medikamente richtet sich aber nicht nur nach Lokalisation, sondern auch nach Intensität von Schmerzen sowie nach den physiologischen Besonderheiten verschiedener pädiatrischer Altersklassen. So können im Früh- und Neugeborenenalter mit noch unreifem Enzymsystem und niedrigerer medikamentöser Clearance-Leistung die meisten Medikamente gar nicht oder in sehr angepasster Form angewandt werden. Ähnliches gilt für alle minimal-invasiven regionalanästhesiologischen Verfahren, die mindestens in Sedierung erfolgen und technisch anspruchsvoll sein können. Das Grundgerüst der systemischen Schmerztherapie stellt das WHO-Stufenschema dar (s. Abb. 1), welches folgende Empfehlungen impliziert:6
- Gabe von oralen Medikamenten favorisieren
- Medikamente in festem Intervallschema verabreichen
- Medikamente nach Schmerzintensität aussuchen (bei stärksten Schmerzen initial Stufe 3)
- von Beginn an nicht-medikamentöse Strategien hinzuziehen
Abb.1: Modifizierte Schmerzskala der WHO als bidirektionaler Ansatz plus nichtpharmakologische Maßnahmen. (Foto: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft)
CAVE auch bei „banalen“ Analgetika
Zu den Nicht-Opioid-Analgetika gehören die nicht-steroidalen (= sauren) Antiphlogistika (NSAR/NSAID) Ibuprofen, Diclofenac, Naproxen und ASS sowie die nicht-sauren Analgetika Paracetamol und Metamizol, die fiebersenkend und analgetisch, jedoch kaum entzündungshemmend wirken. Da Kinder einem besonders hohen Risiko für medikamentöse Nebenwirkungen ausgesetzt sind, sollten auch die „banalen“ Analgetika nicht unkritisch verabreicht werden und bedürfen alters- und gewichtsadaptierter Dosierungsschemata. Hauptindikation für den Einsatz von NSAR sind milde bis moderate entzündliche und traumatisch-postoperative Schmerzen.
Was bei Paracetamol und Metmizol zu beachten ist
Sowohl für NSAR als auch für Paracetamol ist außerdem ein opioidsparender Effekt beschrieben, sodass sie auch bei starken Schmerzzuständen supportiv gegeben werden sollten.7 Da im Neugeborenenalter Paracetamol als einziges Medikament dieser Gruppe zugelassen ist, müssen bei schmaler therapeutischer Breite und potenziellem Risiko irreversibler Leberschädigungen die Dosierung und die Intervalle streng eingehalten werden.8
Metamizol gewinnt zunehmend an Bedeutung, insbesondere im perioperativen Setting, und kann bei erwartet starken Schmerzen postoperativ auch als Dauerinfusion über 24–48 Stunden gegeben werden. Zu beachten ist die gefürchtete metamizolinduzierte Agranulozytose, welche ein sorgfältiges Monitoring zur Früherkennung von Komplikationen erfordert.9
Notfallmanagement bei Einsatz von Opioiden festlegen
Eine sichere Opioidtherapie bedarf einer adäquaten Überwachung und Prophylaxe von unerwünschten Nebenwirkungen, die für die Patientinnen und Patienten im Fall von Übelkeit, Pruritus, Darmmotilitätsstörung und Urinretention äußerst unangenehm sind und im Fall von Sedierung mit Atemdepression sogar lebensbedrohlich sein können. Dabei sind Neugeborene aufgrund der unreifen und weniger effizienten Entgiftungs- und Gegenregulationsfähigkeit besonders gefährdet. Ein entsprechendes Notfallmanagement sollte daher bei Einsatz von Opioiden immer verfügbar sein.
Morphin weiterhin der Goldstandard bei kleinen Kindern
Nach wie vor gilt Morphin als der Goldstandard der Opioidtherapie im Neugeborenen- und Kindesalter. Es kann oral, intravenös als Bolusgabe oder als Dauerinfusion gegeben werden. Für alle Opioide gilt eine titrierende Gabe bis zum Erreichen einer weitgehenden Schmerzfreiheit, sodass insbesondere bei Dauerinfusionsgabe zum Start immer entsprechende Boli gegeben werden sollten um eine sofortige analgetische Wirkung zu erzielen.
Alternativen zu Morphin
- Piritramid als μ-Rezeptor-Agonist hat eine etwas niedrigere analgetische Potenz als Morphin, hingegen ist der Wirkeintritt rascher und die Wirkdauer länger.
- Nalbuphin als κ-Rezeptor-Agonist mit mittlerer analgetischer Potenz hat eine stärkere sedierende Wirkung als andere Opioide, weswegen es in der postoperativen Therapie durchaus günstige Nebeneffekte aufweist.
- Tramadol, Codein und Oxycodone sind im Kindesalter aufgrund der Metabolisierung im hepatischen Cytochrom-P450-System und potenziell hohen Nebenwirkungsraten nicht mehr empfohlen.
- Methadon sollte bei langer Halbwertszeit mit Akkumulationsgefahr und hoher sedierender Wirkung zurückhaltend eingesetzt werden.
Bei zu erwartenden starken Schmerzen über mehrere Tage kann eine Schmerzpumpe eingesetzt werden, die altersabhängig als patientenkontrollierte (PCIA = patient-controlled intravenous analgesia) oder als personalkontrollierte (NCIA = nurse-controlled) Analgesie mit Basalrate und Bolustitration unter entsprechender Überwachung genutzt wird. Eine Zusammenfassung der Dosierungsempfehlungen der wichtigsten Analgetika findet sich in Tabelle 1.10
Bewährte Adjuvantien in der Akutschmerztherapie
Die bewährtesten Adjuvantien in der Akutschmerztherapie im Kindesalter sind Ketamin und Alpha-2-Agonisten (Clonidin, Dexmedetomidin), hauptsächlich aufgrund koanalgetischer und sedierender Effekte mit Einsparung von Opioiden sowie in der Prävention von Opioidentzugs- bzw. Delirzuständen.11 Intravenös verabreichtes Lidocain als Teil einer multimodalen perioperativen Schmerztherapie kann den Analgetika-Bedarf senken. Dexamethason reduziert die Inzidenz von postoperativer Übelkeit und Erbrechen (PONV) und insbesondere bei Kindern die postoperativen Schmerzscores.
Lokalanästhestika richtig anwenden
Topische Lokalanästhestika sollten bei allen sogenannten „needle procedures“ zur Reduktion der Schmerzintensität großzügig und rechtzeitig angewendet werden. Das bekannte „EMLA“-Pflaster („eutectic mixture of local anesthetics“) ist eine Mischung aus Lidocain und Prilocain und benötigt mindestens 60 Minuten in einem okklusiven Verband, um ausreichend zu wirken. Aufgrund Met-Hb-Bildung ist dieses Verfahren bei Früh- und Neugeborenen kontraindiziert.
Regionalanästhesiologische ultraschall-gesteuerte Verfahren haben einen elementaren Stellenwert in der Kinderanästhesie. Sie beinhalten periphere und zentrale neuroaxiale Blockaden, entweder als single shot oder in Kathetertechnik, und können in allen Altersklassen angewendet werden. Die Anlage erfolgt in Sedierung oder Narkose. Üblicherweise werden Ropivacain 0,2% oder Bupivacain 0,25% eingesetzt. Auch hier kann der Einsatz von Adjuvantien wie Alpha-2-Agonisten die Wirkdauer des Blocks verlängern.
Gefürchtete Komplikationen bei Regionalanästhesien sind die systemische Intoxikation, am ehesten durch intravasale Fehlapplikation, sowie das Übersehen eines postinterventionellen Kompartmentsyndroms, weswegen eine sorgfältige Monitorüberwachung immer indiziert ist.
Empfohlene Anlagesieverfahren nach PROSPECT
Die Initiative PROSPECT (Procedure Specific Postoperative Pain Management) hat dazu geführt, dass für spezielle operative Eingriffe evidenzbasierte schmerztherapeutische Empfehlungen ausgesprochen wurden.12 Die in der Pädiatrie empfohlenen Anlagesieverfahren (Opioide nur als Rescue-Therapie) sind folgende:
- Tonsillenchirurgie: Ibuprofen/Metamizol/Diclofenac + Dexamethason + Nalbuphin + Honig
- Appendektomie: Ibuprofen/Metamizol/Diclofenac + Dexamethason + Regionalanästhesie + Lidocain
- Kinderorthopädische Eingriffe: Ibuprofen/Metamizol/Diclofenac + Dexamethason + Regionalanästhesie
- Trichterbrustkorrektur: Ibuprofen/Metamizol/Diclofenac + Dexamethason/Ketamin + Periduralkatheter
- Wirbelsäulenoperationen: Ibuprofen/Metamizol/Diclofenac + Dexamethason + Periduralanalgesie, alternative rückenmarksnahe Opioide (intrathekal/epidural) + systemische Opioide
2. Nicht-pharmakologische Strategien
Postoperative Schmerzen können durch Angst verstärkt werden und zu chronischen Schmerzen führen. Die ersten anxiolytischen Effekte können bereits bei einem altersentsprechenden und angepassten Aufklärungsgespräch erzielt werden. Psychische Faktoren und belastende Situationen, die das Schmerzempfinden stark beeinflussen, bedürfen im Vorfeld einer entsprechenden Begleitung.
Eine kindgerechte und familienzentrierte Behandlung beinhaltet neben Zuwendung und Geborgenheit durch Einbeziehung der Eltern auch
- physiotherapeutische Maßnahmen (Kälte-, Wärmeanwendung, TENS-Stimulation, Akupunktur/Akupressur),
- verhaltenstherapeutische Interventionen (Ablenkung der Aufmerksamkeit weg vom Schmerz) und
- Stressreduktion (Atemübungen, Massage, autogenes Training, Hypnose).
Tipps aus der Neonatologie
In der Neonatologie haben sich nichtnutritives Saugen, Einwickeln, Halten in Froschstellung, Kängurupflege, Stillen und multisensorische Stimulation bei gering schmerzhaften Maßnahmen bewährt, ebenso orale Glucose bei prozeduralem Schmerz wie Blutentnahmen oder Absaugmanöver.
Die Kombination mehrerer dieser Maßnahmen steigert den schmerzmodulierenden Effekt.13 Ein neues und vielversprechendes Distraktionsverfahren bei Klein- und Schulkindern ist die Methode „Virtual Reality“ mittels Brille oder Screen, welches insbesondere bei prozeduralen Analgosedierungen analgetische bzw. analgetika-sparende Effekte zu haben scheint.14
3. Take home messages
- Multimodale Opioid-sparende Therapiekonzepte bilden, ähnlich wie bei chronischem Schmerz, den Eckpfeiler der akuten Schmerztherapie unter Einbeziehung von pharmakologischen und nicht-pharmakologischen Strategien.
- Der Effekt einer balancierten Analgesie durch Kombination verschiedener Maßnahmen sollte die Anxiolyse vor erwartetem Schmerz, die Minimierung des Negativerlebens „Schmerz“ und die Minimierung potenzieller medikamentöser Nebenwirkungen sein.
- Prozeduren-spezifische Protokolle sollten immer mitberücksichtigt und umgesetzt werden.
Mehr zu diesem und anderen Themen aus dem Bereich Intensiv- und Notfallmedizin finden Sie im „DIVI Jahrbuch 2022/2023“. Es werden ausgewählte State of the Art-Beiträge und brandaktuelle wissenschaftliche Arbeiten aus der gesamten Intensiv- und Notfallmedizin präsentiert – kurz, kompakt und auf den Punkt gebracht.