Kennen Sie die wichtigsten onkologischen Notfälle?
Medizinische Notfälle bei Krebspatientinnen und -patienten können als Komplikationen der Krankheit selbst und/oder als Folge der Behandlung des Tumors auftreten. Ärztinnen und Ärzte aller Fachrichtungen sollten nicht nur die potenziellen onkologischen Notfälle kennen und erkennen, sondern auch wissen, wie deren umgehende und wirksame Versorgung aussieht, damit solche klinischen Krisen bewältigt werden können.
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Redaktion: Christoph Renninger
Tumor-Lyse-Syndrom
Bei Blutkrebsarten, rasch wachsenden und voluminösen Tumoren sowie bei Malignomen, die sehr gut auf eine Behandlung ansprechen, kann es nach Beginn einer Chemotherapie oder einer Bestrahlung zum Tumorlyse-Syndrom (TLS) kommen, einer oft lebensgefährlichen Stoffwechselentgleisung.
Wenn Tumorzellen absterben und zerfallen (Abb. 1), setzen sie Kalium, Kalzium, Milchsäure, Phosphat, Proteine und Nukleinsäuren frei. Die Nukleinsäuren werden weiter zu Harnsäure abgebaut.
Eine durch TLS verursachte Hyperphosphatämie kann zur Hypokalzämie mit nachfolgend Tetanie, Krampfanfällen und Herzrhythmusstörungen führen.
Eine Hyperurikämie kann ein Nierenversagen auslösen, was eine TLS-assoziierte Hyperkaliämie verstärken kann, welche wiederum tödliche Herzrhythmusstörungen zur Folge haben kann.
Die Vorbeugung eines TLS ist der beste Weg, um die Mortalität dieser Erkrankung zu senken. Wenn sich jedoch ein TLS entwickelt, sollte ein aggressives Flüssigkeitsmanagement zur Therapie gehören.
Um die Urinbildung und die Kaliumausscheidung zu fördern, können Diuretika eingesetzt werden. Das rekombinante DNA-Uratoxidase-Enzym Rasburicase kann zur Senkung des Harnsäurespiegels im Serum eingesetzt werden.
Besteht der Verdacht auf eine Hyperkaliämie, sollte der Patient engmaschig und mit EKG-Kontrollen überwacht werden (Abb. 2). Um Herzrhythmusstörungen zu vermeiden, sollte Kalzium gegeben werden. In schweren Fällen kann auch eine Dialyse erforderlich sein.
Tumorinduzierte Hyperkalzämie
Die häufigste Ursache einer malignen Hyperkalzämie ist die Sekretion eines dem Parathormon (PTH) ähnlichen Proteins durch den Tumor. Dieses Protein ahmt die PTH-Funktion nach und bewirkt eine Knochenresorption bei verminderter renaler Kalziumausscheidung. Zu den Beschwerden und Symptomen können Übelkeit, Apathie und Verwirrung gehören.
Durch Berechnung des Serumspiegels von Kalziumionen kann der Schweregrad der Hyperkalzämie genau beurteilt werden. Die i.v.-Flüssigkeitsgabe ist die initiale Therapie bei der Hyperkalzämie. Dann folgt die i.v.-Gabe von Bisphosphonat.
Ärzte sollten sich auch die Medikamentenliste der Betroffenen gut ansehen: Manche Wirkstoffe, wie z.B. Thiaziddiuretika, können die Kalziumrückresorption erhöhen. Wenn die erkrankte Person keine großen Volumina an i.v.-Flüssigkeitszufuhr toleriert, kann eine Dialyse erforderlich sein.
Febrile Neutropenie
Als febrile Neutropenie oder neutropenisches Fieber gilt ein Zustand, bei dem eine Person mit einer Neutropenie < 1.500 Zellen/µl länger als 1 Stunde eine oral gemessene Körpertemperatur von über 38°C zeigt. Das größte Risiko für diesen Zustand besteht unter zytotoxischen Chemotherapien und bei Formen des Blutkrebses.
Entgegen üblicher Empfehlungen sollte hier auf eine rektale Temperaturbestimmung verzichtet werden, da die Verwendung eines Rektalthermometers bei immungeschwächten Personen das Risiko für eine Invasion der Schleimhäute durch Darmkeime birgt. Das Infektionsrisiko wird auch durch das Vorhandensein von Ports erhöht.
Eine frühzeitige i.v.-Antibiose senkt die Mortalität bei der febrilen Neutropenie. Sie sollte auch niemals z.B. bis zur Entnahme von Blut oder zur Anlage von Kulturen aufgeschoben werden.
Typhlitis
Die Typhlitis (Blinddarmentzündung, nicht Appendizitis), die auch als neutropenische Enterokolitis bezeichnet wird, beginnt mit der Entzündung des Ileozökums, die später nekrotisiert. Hierzu kommt es am häufigsten bei Patienten mit Leukämie oder Lymphomen. Die Sterblichkeitsrate ohne Therapie liegt bei praktisch 100%.
Betroffene erscheinen oft mit Fieber, Durchfall, Meläna und Bauchschmerzen in der Notaufnahme. Prädisponierend für diese lebensbedrohliche Erkrankung ist eine schwere Neutropenie.
Die Diagnose kann mithilfe eines rechtzeitig durchgeführten CT gestellt werden. Auf der Aufnahme können eine Verdickung der Darmwand (Abb. 5), eine Verdichtung des Fettgewebes („fat stranding“, streifige Fettinfiltration; Abb. 5), eine Pneumatosis intestinalis oder ein Ileus zu sehen sein.
Die Behandlung umfasst die Verabreichung von intravenöser Flüssigkeit und Breitspektrum-Antibiotika sowie die Schonung des Darms. Kommt es trotz angemessener Behandlung zu einer Darmwandperforation, einer schweren Sepsis oder zu einer klinischen Verschlechterung, ist eine sofortige chirurgische Konsultation erforderlich.
Hyperviskositätssyndrom
Die CT-Aufnahme (Abb. 6) zeigt eine Ischämie des Darms, die unter anderem durch ein Hyperviskositätssyndrom verursacht werden kann. Die Wände des Dünndarms sind verdickt und die Schlingen dilatiert (Pfeil).
Zu dem Hyperviskositätssyndrom kommt es, wenn eine Hypergammaglobulinämie die Viskosität des Blutes erhöht. Am häufigsten sind Patienten mit Makroglobulinämie Waldenström oder multiplem Myelom (Plasmozytom) betroffen.
Ein häufiges Symptom dieser Erkrankung sind mukokutane Blutungen wie die Epistaxis. Die Patienten können auch über Sehstörungen klagen. Eine höhere Viskosität des Blutes kann Krampfanfälle, einen Schlaganfall und ein Koma nach sich ziehen. Es kann auch zur Darmischämie kommen.
Durch das vergrößerte Volumen des zirkulierenden Plasmas ist auch ein Herzversagen eine mögliche Folge. Die Behandlung besteht in der sofortigen Plasmapherese.
Vena-cava-superior-Syndrom
Das VCSS tritt bei Krebspatienten auf, wenn etwa eine Masse die V. cava superior komprimiert und den Rückfluss des Blutes zum Herzen beeinträchtigt. Den meisten Fälle liegt eine bösartige Ursache zugrunde. Dabei sind an erster Stelle das Lungenkarzinom und Lymphome zu nennen. Aber auch Thrombosen und Fibrosen nach einer Radiotherapie sind mögliche Auslöser [1,10].
Kurzatmigkeit und Schwellungen im Gesicht gehören zu den häufigsten Beschwerden und Symptomen. Auch Kompressionen der Atemwege, ein Larynxödem, ein Pleuraerguss und Hirnödeme kommen vor.
Wenn sich die Kompression der V. cava superior langsam entwickelt, sind die Symptome meist weniger ausgeprägt, da sich oft ein kollateraler Blutfluss herausbilden konnte. Ohne einen solchen und bei rascher Entwicklung der Kompression, kann es zu einem schweren Atemwegsödem kommen, das eine dringende Atemwegssicherung erfordert.
Bei der Untersuchung von Personen mit VCSS fallen mitunter eine Plethora im Gesicht und eine obere Einflussstauung auf. Der Röntgenthorax ist ein angemessener erster diagnostischer Schritt, da sich auf den meisten Aufnahmen Anomalien und Hinweise auf Massen finden lassen. Die ideale Bildgebung ist jedoch das Thorax-CT mit Kontrastmittel (Abb. 8).
Zur Linderung der Beschwerden kann durch interventionelle Radiologie vorübergehend ein Stent für Entlastung sorgen. Zur definitiven Therapie werden die Chemo- und die Strahlentherapie eingesetzt. Jedoch sind die Langzeitprognose im Allgemeinen schlecht.
Mukositis
Eine Chemo- oder Strahlentherapie hat viele Nebenwirkungen. Dazu gehört auch die Mukositis. In schweren Fällen entwickeln die Betroffenen Schleimhautulzerationen, die bis in die Submukosa reichen.
Obwohl die Mukositis in der Regel die Folge einer Krebstherapie ist, sollten Ärzte nicht vergessen, dass sie auch die Folge einer opportunistischen Infektion sein kann. Zudem kann sie das erste Anzeichen einer Graft-versus-Host-Reaktion sein.
Orale Läsionen in diesem Zusammenhang sind am einfachsten zu diagnostizieren, doch kann eine solche Mukositis jeden Teil des Gastrointestinaltrakts betreffen.
Die Abbildung 10 zeigt eine ausgeprägte Mukositis mit einer konfluierenden pseudomembranösen Schleimhaut bei einem Patienten, der wegen eines Nasopharynxkarzinoms eine Chemotherapie erhält.
Die Mukositis ist mit starken Schmerzen verbunden, wodurch die Betroffenen oftmals weniger essen. Wegen des Zusammenbruches der Schleimhautbarriere haben diese Personen ein hohes Risiko für Sekundärinfektionen und auch für Bakteriämien.
Zur Behandlung werden Eiswürfel, Kochsalzspülungen, topisches Lidocain und topisches Nystatin eingesetzt, wenngleich mit unterschiedlichem Erfolg. Um wirksam gegen die Schmerzen vorzugehen, müssen Analgetika nicht selten i.v. verabreicht werden.
Graft-versus-Host-Reaktion
Die linke Aufnahme zeigt einen makulopapulösen Ausschlag bei einem Patienten mit Graft-versus-Host-Reaktion (GVHR) (Abb. 11). Das endoskopische Bild rechts zeigt eine ödematöse, rote und vulnerable Magenschleimhaut bei einer anderen Person mit GVHR (Abb. 11).
Zu einer solchen Reaktion kommt es, wenn Immunzellen aus dem transplantierten Gewebe das Gewebe des Empfängers angreifen. Diese Erkrankung tritt am häufigsten nach einer Stammzelltransplantation auf, kann aber auch nach einer Organtransplantation vorkommen. Von einer akuten GVHR spricht man, wenn die Symptome innerhalb von 100 Tagen nach der Transplantation auftreten. Meistens ist die Haut in Form eines makulopapulösen Ausschlages betroffen.
In ihrer stärksten Ausprägung ähnelt die GVHR der toxischen epidermalen Nekrolyse mit Blasen, Schleimhautabschuppung und ausgedehnter Hautbeteiligung. Bei einem Ausschlag an den Handflächen und Fußsohlen sowie gastrointestinalen Beschwerden (z.B. wässriger Durchfall, Hyperbilirubinämie) ist eine GVHR wahrscheinlicher als die toxische epidermale Nekrolyse. Eine GVHR sollte auch bei Personen mit Fieber und negativer Blutkultur in Betracht gezogen werden.
Hier sieht man die verdickte Haut eines Patienten mit steroidrefraktärer kutaner GVHR (Abb. 12). Ärzte haben verschiedene Behandlungsversuche mit Methylprednisolon, mit Ciclosporin, mit Tacrolimus, mit dem Photosensibilisator 8-Methoxypsoralen + UV-A (PUVA), mit extrakorporaler Photopherese und mit Thalidomid unternommen. Keine dieser Maßnahmen war erfolgreich.
Schmerzen
Viele Krebskranke werden irgendwann unter Schmerzen leiden. Paracetamol und nichtsteroidale Antiphlogistika (NSAIDs) sind die Mittel der 1. Wahl bei leichten krebsbedingten Schmerzen. NSAIDs wirken synergetisch mit Opioiden und können besonders zur Behandlung von Schmerzen des Bindegewebes, der Gelenke und der Knochen hilfreich sein. Hydrocodon, Oxycodon, Codein und Tramadol sind hier die Mittel der zweiten Wahl.
Mäßige bis starke Schmerzen bei einer Krebserkrankung können mit Morphin, Hydromorphon, Methadon oder Fentanyl behandelt werden. Die Dosierung kann ohne Obergrenze bis zur Schmerzfreiheit titriert werden. Morphin wird über die Nieren ausgeschieden. Daher sollte bei Anzeichen für eine verminderte Kreatinin-Clearance vorsichtig dosiert werden.
Hydromorphon wird in der Leber metabolisiert und ist daher bei Leberfunktionsstörungen möglicherweise keine gute Wahl. Methadon hat den Vorteil einer langen Halbwertszeit. Es kann jedoch zu einer signifikanten QT-Verlängerung mit nachfolgender Torsade de pointes führen.
Fentanyl ist lipophil und kann über die Haut und die Schleimhäute resorbiert werden. Sein analgetisches Potenzial ist dem von Morphin ebenbürtig, aber die mit Morphin verbundenen Nebenwirkungen wie Schläfrigkeit und Obstipation sind unter Fentanyl seltener. Die „Titration“ von transdermalem Fentanyl kann schwierig und gefährlich sein und sollte nicht in der Notaufnahme begonnen werden.
Adjuvante Analgesie
Die Aufnahme zeigt ein Rückenmarksödem (gelber Pfeil) aufgrund einer intramedullären Metastase (weißer Pfeil) bei einem primären Cholangiokarzinom (Abb. 13).
Es wurden verschiedene adjuvante Analgetika bei Krebskranken erprobt, wobei die Ergebnisse unterschiedlich waren. Trizyklische Antidepressiva zur Therapie neuropathischer Schmerzen haben in Studien unterschiedliche Wirkungen gezeigt. Bei älteren Menschen stehen dem potenziellen Nutzen dieser Medikamente zudem die Risiken von Hypotonie, Herzrhythmusstörungen und Delirium entgegen.
Kortikosteroide können bei der Behandlung von metastatischen Knochenschmerzen wirksam sein. Auch ein Hirn- oder Rückenmarksödem (Abb. 13) im Rahmen einer Krebserkrankung kann sich unter Steroiden bessern.
In der Behandlung neuropathischer Schmerzen hat sich Gabapentin als wirksam erwiesen, doch muss vor dem Beginn der Medikation die Kreatinin-Clearance der betroffenen Person bewertet werden. Gabapentin muss langsam titriert werden und das Bewusstsein kann sich darunter eintrüben. Auch Lidocain kommt i.v. oder s.c. zur Schmerzlinderung infrage. Bei bestehenden Herzproblemen eignet es sich jedoch weniger.
Bei Schmerzen, die sich unter einer Opioidtherapie nicht gut kontrollieren lassen, werden mitunter Cannabinoide eingesetzt. Verschiedene Studien haben darunter eine verbesserte Schmerzkontrolle nachgewiesen, doch gilt diese Behandlung nicht als erste Wahl. Sie scheint am hilfreichsten in Kombination mit anderen Schmerzmedikamenten zu sein.
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.