Neuer Mechanismus, wie Brustkrebs entstehen kann
Forschende der Harvard Medical School haben möglicherweise ein lange Zeit fehlendes Puzzleteil bei der Entstehung von Brustkrebs gefunden. Sie identifizierten einen molekularen Auslöser bei Erkrankungen, die mit klassischen Modellen nicht erklärt werden konnten.1,2
Lesedauer: ca. 5 Minuten

Autor: Christoph Renninger
Bis zu jeder dritte Brustkrebsfall erklärt
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen davon aus, dass der neu identifizierte Mechanismus bei bis zu einem Drittel aller Brustkrebserkrankungen der Auslöser ist. Die in Nature publizierte Studie zeigt zudem, dass Östrogen der Verursacher der molekularen Dysfunktion ist, da es die DNS einer Zelle direkt beeinflusst.
Die meisten, wenn auch nicht alle, Brustkrebserkrankungen werden durch hormonelle Schwankungen angetrieben. Die vorherrschende Ansicht über die Rolle von Östrogen bei Brustkrebs ist, dass es als Katalysator für das Krebswachstum wirkt, weil es die Teilung und Vermehrung des Brustgewebes anregt, ein Prozess, der ein Risiko für krebserregende Mutationen birgt. Die neue Arbeit zeigt jedoch, dass Östrogen auf viel direktere Weise Unheil anrichtet.
"Unsere Arbeit zeigt, dass Östrogen direkt genomische Translokationen auslösen kann, die zu Krebs führen, so dass seine Rolle bei der Entstehung von Brustkrebs sowohl die eines Katalysators als auch die einer Ursache ist", sagte der Erstautor der Studie, Jake Lee vom Memorial Sloan Kettering Cancer Center.
Obwohl die Studie keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Therapie hat, könnte sie die Entwicklung von Tests unterstützen, mit denen das Ansprechen auf die Behandlung verfolgt werden kann, und Ärzten helfen, Rezidive bei Patientinnen mit einer Vorgeschichte von bestimmten Brustkrebsarten zu erkennen.
Die Geburt einer Krebszelle
Viele menschliche Krebsarten entstehen aufgrund von fehlerhafter Chromosomenanordnung während der Zellteilung, eta wenn Chromosomen umgeordnet werden und schlafende Onkogene wecken, die das Tumorwachstum auslösen können.
Zu einer solchen Chromosomenvermischung kann es kommen, wenn ein Chromosom bricht und eine zweite Kopie des gebrochenen Chromosoms gebildet wird, bevor der Bruch repariert werden konnte.
In einem missglückten Reparaturversuch wird dann das gebrochene Ende eines Chromosoms mit dem gebrochenen Ende seiner Schwesterkopie verschmolzen, anstatt mit seinem ursprünglichen Partner. Die daraus resultierende neue Struktur ist ein missgebildetes, schlecht funktionierendes Chromosom.
Bei der nächsten Zellteilung wird das fehlgeformte Chromosom zwischen die beiden entstehenden Tochterzellen gespannt, und die Chromosomen-"Brücke" bricht, so dass Bruchstücke zurückbleiben, die Onkogene enthalten, die sich vermehren und aktiviert werden.
Bestimmte menschliche Krebsarten, darunter einige Brustkrebsarten, entstehen, wenn die Chromosomen einer Zelle auf diese Weise umgeordnet werden. Diese Fehlfunktion wurde erstmals in den 1930er Jahren von Barbara McClintock beschrieben, die dafür 1983 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielt.
„Kalte Fälle“ erneut analysiert
Krebsexpertinnen und -expteren können diese besondere Anomalie in Tumorproben häufig mit Hilfe der Genomsequenzierung nachweisen. Ein Teil der Brustkrebsfälle weist jedoch nicht dieses Mutationsmuster auf, was die Frage aufwirft: Was ist die Ursache für diese Tumore?
Dies waren die "kalten" Fälle, die die Studienautoren Prof. Peter Park und Jake Lee interessierten. Auf der Suche nach Antworten analysierten sie die Genome von 780 Brustkrebspatientinnen, bei denen die Krankheit diagnostiziert worden war. Sie erwarteten, in den meisten Tumorproben die klassische Chromosomenstörung zu finden, aber viele der Tumorzellen wiesen keine Spur dieses klassischen molekularen Musters auf.
Statt des klassischen unförmigen und falsch zusammengesetzten einzelnen Chromosoms sahen sie, dass zwei Chromosomen fusioniert waren, und zwar verdächtigerweise in der Nähe von "Hot Spots", an denen sich Krebsgene befinden.
Genau wie in McClintocks Modell hatten diese neu angeordneten Chromosomen Brücken gebildet, nur dass in diesem Fall die Brücke zwei verschiedene Chromosomen enthielt. Dieses charakteristische Muster war bei einem Drittel (244 Fälle) der untersuchten Tumoren zu finden.
Lee und Park erkannten, dass sie auf einen neuen Mechanismus gestoßen waren, bei dem ein "entstelltes" Chromosom entsteht und dann bricht, um die mysteriösen Brustkrebsfälle zu fördern.
Eine neue Rolle für Östrogen bei Brustkrebs?
Als die Forschenden auf die Hotspots der Krebsgenaktivierung zoomten, stellten sie fest, dass diese Bereiche interessanterweise in der Nähe von östrogenbindenden Bereichen auf der DNS lagen.
Es ist bekannt, dass Östrogenrezeptoren an bestimmte Regionen des Genoms binden, wenn eine Zelle durch Östrogen stimuliert wird. Die Forscher fanden heraus, dass sich diese Östrogenbindungsstellen häufig in der Nähe der Zonen befanden, in denen die frühen DNS-Brüche stattfanden.
Dies war ein starker Hinweis darauf, dass Östrogen in irgendeiner Weise an der Umstrukturierung des Genoms beteiligt sein könnte, die zur Aktivierung von Krebsgenen führt.
Auch in der Kulturschale nachvollziehbar
Lee und Park gingen diesem Hinweis nach, indem sie in vitro-Experimente mit Brustkrebszellen durchführten. Sie setzten die Zellen Östrogen aus und verwendeten dann CRISPR-Cas9, um gezielt Schnitte in der DNS der Zellen vorzunehmen.
Als die Zellen ihre beschädigte DNS reparierten, setzten sie eine Reparaturkette in Gang, die zu der gleichen genomischen Umstrukturierung führte, die Lee und Park bei ihren Genomanalysen entdeckt hatten.
Es ist bereits bekannt, dass Östrogen das Wachstum von Brustkrebs fördert, indem es die Vermehrung von Brustzellen anregt. Die neuen Beobachtungen lassen dieses Hormon jedoch in einem andren Licht erscheinen.
Sie zeigen, dass Östrogen eine noch zentralere Rolle bei der Krebsentstehung spielt, weil es direkt die Art und Weise verändert, wie Zellen ihre DNS reparieren.
Wirkung von Medikamenten besser verstehen
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Östrogen-supprimierende Medikamente wie Tamoxifen, die Brustkrebspatientinnen häufig erhalten, um ein Wiederauftreten der Krankheit zu verhindern - auf eine direktere Art und Weise wirken, als nur die Vermehrung der Brustzellen zu reduzieren.
"In Anbetracht unserer Ergebnisse schlagen wir vor, dass diese Medikamente zusätzlich zur Unterdrückung der Brustzellvermehrung auch verhindern könnten, dass Östrogen krebsverursachende genomische Umlagerungen in den Zellen auslöst", so Lee.
Die Studie könnte zu verbesserten Brustkrebs-Tests führen. So könnte der Nachweis des genomischen Fingerabdrucks der Chromosomentranslokation in der Onkologie Tätige darauf aufmerksam machen, dass die Krankheit einer Patientin wieder auftritt, so Lee.
Ein ähnlicher Ansatz zur Verfolgung von Krankheitsrezidiven und dem Ansprechen auf die Behandlung wird bereits häufig bei Krebsarten eingesetzt, die kritische Chromosomentranslokationen aufweisen, wie z. B. bestimmte Arten von Leukämie.
Ganz allgemein unterstreicht die Arbeit den Wert der DNS-Sequenzierung und der sorgfältigen Datenanalyse zur Vertiefung der Biologie der Krebsentwicklung, so die Forscher.
"Es begann alles mit einer einzigen Beobachtung. Uns ist aufgefallen, dass die komplexen Mutationsmuster, die wir in den Genomsequenzierungsdaten sehen, nicht durch das Lehrbuchmodell erklärt werden können", so Park. "Aber jetzt, wo wir das Puzzle zusammengesetzt haben, ergeben die Muster im Lichte des neuen Modells einen Sinn. Das ist ungeheuer erfreulich.“