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Neurologie

10. Mai 2022

Piriformis-Syndrom: Untersuchung, Differenzialdiagnosen & Behandlung

Erfahren Sie, welche Fallstricke bei der Diagnose zu beachten sind, und wie Sie das Syndrom behandeln können. Herr Dr. med. Christoph Stenzel, Facharzt für Neurologie, ordnet die wichtigsten Informationen zu diesem Krankheitsbild für Sie ein. 1

Lesedauer: ca. 2 Minuten

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Dieser Beitrag basiert auf dem Vortrag von Herrn Dr. med. Heinrich Binsfeld und Herrn Matthias Oeding, auf dem Deutschen Schmerz- und Palliativtag 2022. Redaktion: Dr. Linda Fischer

Krankhafte Quetschung des Ischiasnerv

Der M. piriformis ist ein flacher, pyramidal bis birnenförmig geformter Skelettmuskel der Hüftmuskulatur. Er verläuft von der Außenkante des Kreuzbeins bis zum Trochanter major des Oberschenkels. Das Piriformis-Syndrom entsteht durch eine Quetschung des Ischiasnervs durch diesen Muskel.

N. ischiadicus – anatomische Varianten möglich

Der N. ischiadicus ist ein peripherer Nerv des Plexus lumbosacralis. Beim Menschen hat er seinen Ursprung aus den letzten zwei lumbalen und den ersten drei sakralen Rückenmarkssegmenten L4-S3. Bei genauerem Betrachten handelt es sich bei dem N. ischiadicus (beim Menschen) um zwei Nerven (N. fibularis oder peronaeus communis, N. tibialis), die unterschiedliche Muskeln ansteuern und nur durch die bindegewebsartige Hülle wie ein einziger Nerv erscheinen.

Der N. ischiadicus kann komplett unterhalb oder komplett oberhalb des M. piriformis austreten. Auch eine frühe Teilung ist möglich, bei der ein Teil des Nervs durch den Muskel zieht, der andere nicht. Es gibt die Variante, die zugleich ober- und unterhalb des M. piriformis verläuft, oder die komplett durch den M. piriformis zieht. Dieser Variantenreichtum erschwert das therapeutische Vorgehen. Ein Ultraschall kann helfen, den Verlauf des Nervs zu erkennen und den Muskel entsprechend zu behandeln, ohne dabei den Nerv zu beschädigen.

Körperliche Untersuchung und provozierende Tests

Über Muskeltests kann das Piriformis-Syndrom von anderen Ursachen differenziert werden. Der M. piriformis dient bei gestreckter Hüfte als Außenrotator und bei gebeugter Hüfte als Abduktor. Werden diese Funktionen unter Schmerzverstärkung getestet, deutet dies auf ein Piriformis-Syndrom hin. Der Test der Außenrotation wird in sitzender Position geprüft. Folgende Tests bestätigen die Diagnose:

  • Mirkin Test: Druck auf das Gesäß, wo der N. ischiadicus den M. piriformis kreuzt, während sich der Patient oder die Patientin langsam zum Boden hin beugt
  • Pace Test: Abduktion des betroffenen Beins im Sitzen
  • Beatty Test: Abheben des Knies um mehrere Zentimeter im Liegen auf der nichtbetroffenen Seite
  • Oeding Test: Abduktion des betroffenen Beins im Liegen
  • Freiberg Test: Schmerzen bei kraftvoller Innenrotation des gebeugten Oberschenkels

Differentialdiagnosen

Bei der Untersuchung des Hüftgelenks fahndet Oeding nach

  • Arthrose/Arthritis des Hüftgelenks (Innenrotation stärker eingeschränkt als Extension)
  • Ansatztendinosen (über die Testung isometrischer Widerstände)
  • Bursitis durch Palpation rund um den Trochanter major; hier finden sich mehrere Bursen (hauptsächlich die Bursa trochanterica; Oeding empfiehlt auch nach dorsal und nach kaudal zu palpieren)
  • Muskelverkürzungen im M. iliopsoas, M. rectus femoris, M. tensor fasciae latae nachprüfen
  • Meralgia parästhetica
Fallstrick: Meralgia parästhetica (Inguinaltunnel-Syndrom)

Die Meralgia parästhetica ist ein Nervenkompressions-Syndrom des N. cutaneus femoris lateralis im Bereich des Leistenbandes. Der Nerv entstammt dem Plexus lumbalis, verlässt das Becken dicht an der Spina iliaca anterior superior und dringt hier durch die Fasern des Leistenbandes, wo er leicht eingeengt werden kann. Man spricht dann von dem Inguinaltunnel-Syndrom.

Ist der N. cutaneus femoris lateralis gestört, kommt es zu sensiblen Ausfällen über der vorderen lateralen Oberschenkelseite. Im Unterschied zu einer Radikulopathie, kommt es hier zu keinen motorischen Ausfällen.

Die Ursache der Meralgia parästhetica ist häufig ein mechanisch bedingter Druck unter dem Leistenband oder auch Druck- oder Zugeffekte im Nervenverlauf, v.a. am Austrittsort aus dem Becken. Auch eine Läsion des Nervs als Komplikation medizinischer Maßnahmen ist nicht selten.

Schmerzen des Nachts, Sensibilitätsausfälle

Die Hauptsymptome fasst Binsfeld wie folgt zusammen:

  • nadelstichartige, brennende Schmerzen an der vorderen Außenseite des Oberschenkels
  • Schmerzen bevorzugt bei Streckung im Hüftgelenk, d.h. im Gehen und Stehen
  • Empfindungsstörungen an der Oberschenkelaußenseite
  • Schmerzen während der Nacht
  • Sensibilitätsausfälle auch im umliegenden Gebiet, der Vorderseite des Oberschenkels

Typischerweise bessern sich die Missempfindungen bei Hüftbeugung und lassen sich durch Überstreckung des Hüftgelenks bei gleichzeitiger Beugung der Knie provozieren. Bei 2/3 der Betroffenen findet sich ein schmerzhafter Punkt knapp medial der Spina iliaca anterior superior.

Später kommt es zu vegetativen Störungen, z.B. Hypotrichose im Versorgungsgebiet des Nervs und Verdünnung der Haut. Die Sensibilität verschlechtert sich zunehmend und kann schließlich dauerhaft gestört bleiben, obwohl die Missempfindung weiter bestehen.

Therapie: NSAR, Operation

Ärztinnen und Ärzte sollten die Betroffenen über die zumeist harmlose Ursache ihrer starken Schmerzen und Gefühlsstörungen aufklären. Einfache Maßnahmen wie das Vermeiden von langem Stehen oder wiederholten Streckungen der Hüfte können die Beschwerden lindern. Übergewicht sollte reduziert werden.

Zunächst kann versucht werden, die Schmerzen mit nichtsteroidalen Antirheumatika zu bekämpfen. Die Nervenblockade mit einem Lokalanästhetikum oder eines Steroids primärer Indikation lindert nicht nur die akuten Schmerzen, sondern kann laut Binsfeld zu anhaltender Beschwerdefreiheit führen. In schweren Fällen muss eine Operation in Erwägung gezogen werden, um den Nerv aus dem druckausübenden Gewebe zu lösen (Neurolyse). In manchen Fällen ist die operative Erweiterung des Nerventunnels durch das Leistenband notwendig.

Behandlung: Bewegungsablauf ändern und dehnen

Patientinnen und Patienten sollten vorübergehend Aktivitäten vermeiden, die Schmerzen auslösen. Sowohl spezielle Dehnübungen für die posteriore Muskulatur der Hüfte und den M. piriformis als auch eine Kortikosteroidinjektion können helfen. NSAR können auch temporäre Schmerzlinderung bringen. Ein chirurgischer Eingriff ist selten gerechtfertigt.

Binsfeld rät zudem, neben den genannten Therapieverfahren auch die Wirkung einer Physiotherapie nicht zu vernachlässigen.

Expertenstatement

Schmerzen am Oberschenkel – nicht immer nur Rücken

Neben den reinen Gelenkschmerzen (Hüfte, Knie), sind flächige, streifenförmige Schmerzen am Oberschenkel häufige Beschwerden vieler Patientinnen und Patienten in hausärztlichen, neurologischen, orthopädischen und schmerztherapeutischen Praxen und Ambulanzen. In der Regel ist es nicht so schwierig aus den anamnestischen Angaben zur Schmerzlokalisation, möglichen sensomotorischen Defiziten und dem Untersuchungsbefund auch die Lokalisation der Ursache klinisch schon mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu finden. Insbesondere aber, wenn nicht alle Angaben und Befunde zu einer lumbosakralen Radikulopathie passen und auch die Bildgebung (CT, MRT) Zweifel eher bestätigt als ausräumt, ist es gut, einige, nicht ganz seltene Differentialdiagnosen zu kennen.

Die typischen „Ischiasbeschwerden“ sind meistens keine Schädigung des N. ischiadicus, sondern weiter proximal gelegene Druckschädigungen der Radix L5 und insbesondere S1. Beim Piriformis-Syndrom wird der N. Ischiadicus allerdings selber durch einen verkürzten und hypertrophierten M. piriformis im dorsalen Becken irritiert. Begünstigend sind dabei anatomische Varianten, die den N. ischiadicus nicht seitlich vorbei, sondern als ganzen oder teilweise durch den Muskelbauch des Piriformis ziehen lassen. Typischerweise entstehen pseudoradikuläre Schmerzen und je nach Intensität auch Dysästhesien gluteal, an der Ober- und Unterschenkelrückseite, bisweilen zur Fußsohle oder zum Fußrücken ziehend, zum Verwechseln ähnlich den Dermatomlokalisationen L5 und insbesondere S1.

Der M. piriformis funktioniert bei gebeugter Hüfte als Abduktor, bei gestreckter Hüfte als Außenrotator. Verstärkt werden die Schmerzen dann bei kraftvoller Hüftabduktion bei gebeugter Hüfte und bei der Außenrotation bei gestreckter Hüfte. Zudem können durch Überdehnungen die Schmerzen provoziert werden. Die Asymmetrie der Mm. piriformes im Seitenvergleich lässt sich am besten mittels MRT nachweisen. Sonographische Untersuchungen des proximalen N. ischiadicus gelingen oft nicht, da der Nerv dann nicht mehr ausreichend oberflächennah verläuft. Vermutliche Ursachen des Piriformis-Syndroms sind einseitiges längeres Sitzen oder asymmetrische Belastungen wie Sitzen mit Portemonnaie in der Gesäßtasche. Therapeutisch sind vor allem physiotherapeutische Maßnahmen hilfreich, bei persistierenden Beschwerden auch Botulinumtoxin-Injektionen.

Schmerzen und Dysästhesien an der distalen Oberschenkelvorder- und -außenseite können durch Irritationen der Radix L3, aber auch durch Kompression des rein sensiblen N. cutaneus femoris lateralis am lateralen Leistenband in Höhe der Spina iliaca anterior superior auftreten. Die brennenden Schmerzen mit oder ohne Hypästhesien werden als Meralgia parästhetica (Inguinaltunnel-Syndrom) bezeichnet. Verstärkt werden die Beschwerden durch erhöhten abdominellen Druck (Adipositas, fortgeschrittene Schwangerschaft) auf den Nerv beim Stehen und Gehen oder bei lokalem Druck von außen z.B. durch zu enge Gürtel an Hosen oder Rucksäcken. Streckung im Hüftgelenk verstärkt die Beschwerden, weswegen es zu einer Zunahme oft auch in der Nacht im Liegen kommt. Ausgeschlossen werden sollten lokale Raumforderungen wie Hernien oder Lipome. Neben der lokalen Druckentlastung sind sehr oft schmerzmodulierende Substanzen wie Gabapentin oder Pregabalin hilfreich. Lokale Injektionen (Anästhetika, Steroide) lindern oft nur zeitlich begrenzt die Schmerzen. Die Spontanheilungsrate über 12-18 Monate ist relativ groß. Bei persistierenden Schmerzen sollte eine operative Neurolyse erfolgen.

Wer mehr über Details, klinische Tests und therapeutische Optionen erfahren möchte, sei auf den Vortrag von Dr. med. Heinrich Binsfeld und Herrn Matthias Oeding, auf dem Deutschen Schmerz- und Palliativtag 2022 verwiesen. Ergänzend auch empfehlenswert: Probst et al., Piriformis Syndrome: A narrative review of the anatomy, diagnosis, and treatment (PM & R: the journal of injury, function, and rehabilitation, 2019; doi: 10.1002/pmrj.12189).

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