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Neurologie

20. Juni 2022

Wie das Darmmikrobiom neurologische Erkrankungen beeinflusst 

Der Darmtrakt ist eines der größten Mikroökosysteme im menschlichen Körper und beeinflusst die Gesundheit des Gehirns. Das bestätigen neue Studiendaten aus den USA. Doch wie kommunizieren Darm und Gehirn und gibt es charakteristische Veränderungen im Mikrobiom z. B. bei Migräne, Alzheimer oder Parkinson? Sind Behandlungen mit Probiotika oder Mikrobiota-Transfer wirksam? Ein Überblick. 

Lesedauer: ca. 5 Minuten

Mediziner erforscht Bakterien im Labor

Erste Hinweise für Zusammenhang bereits durch kleinere Studien

Dass das Darmmikrobiom Einfluss auf kognitive Funktionen hat, haben Forscherinnen und Forscher bereits im Rahmen von Tierversuchen gezeigt.1,2 Auch in kleineren klinischen Studien konnten Forschungsteams einen Zusammenhang zwischen mikrobiellen Eigenschaften und der Kognition feststellen. Probiotische Behandlungen, welche die Menge an kommensaler Mikrobiota erhöhen sollten, führten z. B. zu signifikant verbesserten kognitiven Fähigkeiten. 3-6

Größere Studie bestätigt: Darmmikrobiom beeinflusst kognitives Alter

Neue klinische Studiendaten aus den USA bestätigen nun einen signifikanten Einfluss des Darmmikrobioms auf die kognitive Funktion. Im Rahmen dieser im Mai 2022 in JAMA veröffentlichten Querschnittsstudie waren sowohl die Diversität als auch das Vorhandensein bestimmter Bakteriengattungen mit den erreichten Scores bei Kognitionstests assoziiert – auch nach Anpassung um Variablen, die bekanntermaßen mit der kognitiven Funktion zusammenhängen.7

Die Forscherinnen und Forscher sequenzierten Stuhl-DNA von 597 Personen (55,2 ± 3,5 Jahre, 44,7 % männlich) und führten Kognitionstests durch, darunter Montreal Cognitive Assessment (MoCA), Digit Symbol Substitution Test (DSST), Rey-Auditory Verbal Learning Test (RAVLT) und Stroop-Test. 

Die bei den Kognitionstests erreichten Scores waren statistisch signifikant mit der β-Diversität assoziiert:

  • Personen mit einer höheren β-Diversität (Maß für den Unterschied in der mikrobiellen Artenvielfalt verschiedener Menschen) schnitten bei 5 der 6 durchgeführten Kognitionstests besser ab.
  • Die α-Diversität war hingegen nicht signifikant mit der Kognition assoziiert.  

Zudem war das Vorhandensein der Bakteriengattungen Barnesiella und Akkermansia sowie einer Gruppe von Lachnospiraceae positiv mit dem Abschneiden bei bestimmten Kognitionstests verbunden. Eine negative Assoziation mit dem MoCA-Test wies die Besiedlung mit der Gattung Sutterella auf.  

Diese Daten legen nahe, dass das Darmmikrobiom mit dem kognitiven Altern in Verbindung stehen könnte. Die Autorinnen und Autoren weisen jedoch darauf hin, dass diese Beobachtung in größeren Stichproben repliziert und weiter erforscht werden müsse, um relevante Signalwege zu identifizieren.7,8

Wie sind Gehirn und Darm miteinander verbunden?

Die Darm-Hirn-Achse umfasst das zentrale Nervensystem, das endokrine System und das Immunsystem und ist ein Netzwerk für den bidirektionalen Informationsaustausch zwischen Darm und Gehirn.5 Wird das empfindliche Gleichgewicht der Darmmikrobiota gestört, kann dies mit diversen neurologischen Erkrankungen einhergehen.10

Dementsprechend können Ungleichgewichte im Darmmikrobiom bei neurologischen Erkrankungen wie Migräne, Alzheimer-Krankheit (AD), Parkinson-Krankheit (PD), Autismus-Spektrum-Störung, Epilepsie und schweren depressiven Störungen auftreten.3,10,11

Neben der klassischen Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse und den endokrinen Signalwegen (Darmpeptide und Hormone) gibt es immer mehr Hinweise darauf, dass die von Bakterien produzierten Stoffwechselprodukte (kurzkettige Fettsäuren12, Neurotransmitter und ihre Vorstufen) den Gehalt an entsprechenden Metaboliten im Gehirn über den Blutkreislauf beeinflussen und so Gehirnfunktionen sowie die Kognition regulieren können.4 Darüber hinaus können die Darmmikrobiota auf das lokale Nervensystem einwirken (z. B. enterische Nerven, Vagusnerv), um schnell Signale an das Gehirn zu übertragen.13  

Einfluss auf verschiedene neurologische Erkrankungen im Überblick

Migräne

In einer Analyse der fäkalen Proben von 54 Frauen mit Migräne zeigte sich gegenüber den 54 Kontrollen eine signifikant niedrigere α-Diversität sowie eine Anreicherung von Spezies, die sich negativ auf die Gesundheit auswirken könnten.14 Eine konkrete Verbindung zwischen Darm und Gehirn ist der Vagusnerv, dessen sensorische Afferenzen möglicherweise durch gastrointestinale Beschwerden moduliert werden können. Diese Afferenzen beeinflussen wiederum das deszendierende antinozizeptive System und könnten somit eine Migräneattacke auslösen.15

Könnte der Einsatz von Probiotika, z. B. um der niedrigen α-Diversität entgegenzuwirken, in der Migräneprophylaxe nützlich sein? Eine Übersicht zu den bisherigen Studienergebnissen finden Sie im Beitrag "Liebe geht durch den Magen – und Migräne durch den Darm?" des Infocenters "Mindful – Das Migräne-Portal".

Zum Beitrag

Alzheimer-Krankheit 

Patientinnen und Patienten mit AD können z. B. ein Ungleichgewicht im Darmmikrobiom aufweisen, das sich durch eine verminderte mikrobielle Vielfalt im Stuhl, geringe Dichte einiger nützlicher Bakterientaxa (z. B. Eubacterium rectale, Bifidobacterium, Dialister) und eine größere Anzahl potentiell pathogener Mikroben (z. B. Escherichia/Shigella, Bacteroides, Ruminococcus) auszeichnet.16 Dennoch ist bisher unklar, wie das Darmmikrobiom an der Pathogenese beteiligt ist. 

Parkinson-Krankheit

Auch bei der Entstehung von Parkinson scheint dem Mikrobiom eine entscheidende Rolle zuzukommen. Es mehren sich zunehmend Hinweise, dass Morbus Parkinson in den olfaktorischen- oder enterischen Nervenzellen seinen Ursprung nimmt. Nach aktuellem Wissenstand geht man davon aus, dass falsch gefaltetes α-Synuclein über den Vagusnerv ins Gehirn wandert und dort die Entstehung von Läsionen triggert.17-20 

Darüber hinaus zeigen Studien, dass sich die Zusammensetzung des Mikrobioms von Patientinnen und Patienten mit und ohne Parkinson-Erkrankung deutlich unterscheidet.21 Das Mikrobiom scheint aber nicht nur die Genese der Erkrankung, sondern auch die Wirksamkeit der Parkinson-Medikation zu beeinflussen.22

Autismus-Spektrum-Störung 

Die im Darm ansässigen Mikrobiota könnten bei dem Schweregrad einer Autismus-Spektrum-Störung (ASD) eine Rolle spielen. Diese Annahme stützt sich v. a. auf Daten klinischer Studien, in deren Rahmen Kinder mit ASD unter gastrointestinalen Magen-Darm-Symptomen wie Verstopfung und Durchfall litten. Hier verbesserte eine Behandlung mit Vancomycin den Schweregrad der Erkrankung und die Verhaltenssymptome.5 

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Weitere Studien zeigten zudem, dass die relative Häufigkeit von Lactobacillaceae, Bifidobacteraceae und Veillonellaceae im Mikrobiom von Kindern mit ASD höher war im Vergleich zu Kindern ohne diese Erkrankung.23 Außerdem wiesen Kinder mit ASD eine relative Abnahme der Häufigkeit von Acidaminococcaceae, Lachnoclostridium, Flavonifractor und Lachnospiraceae auf, im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen.24

Auch die Zusammensetzung der kurzkettigen Fettsäuren war bei Menschen mit ASD verändert, mit einer Abnahme der fäkalen Essigsäure und Butyrat und einer Zunahme der fäkalen Valeriansäure. Der geringe Anteil an Butyrat-produzierenden Taxa und eine höhere Konzentration an Valeriansäure-assoziierten Bakterien deuten ebenfalls darauf hin, dass die Darmmikrobiota zur ASD-Pathogenese beitragen.25 

In einer kleinen klinischen Studie konnte ein Forschungsteam außerdem die gastrointestinalen und die Verhaltenssymptome bei Kindern mit ASD durch eine Mikrobiota-Transfer-Therapie signifikant verbessern.5

Epilepsie  

Dass die Darmmikrobiota vermutlich eine Rolle bei Epilepsie spielen, zeigt ein Fallbeispiel: Bei einem 22-jährigen Patienten mit Morbus Crohn und einer 17-jährigen Anfallsanamnese wurde eine fäkale Mikrobiota-Transplantation (FMT) zur Behandlung des Morbus Crohn durchgeführt.6 Während der 20-monatigen Nachbeobachtung war der Patient anfallsfrei, trotz des Absetzens der antiepileptischen Behandlung mit Natriumvalproat. Auf der Grundlage dieses Falles wurde eine klinische Studie zur FMT bei Menschen mit Epilepsie registriert (NCT02889627)26, Ergebnisse stehen allerdings noch aus.  

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In einer anderen Studie zeigten Forscherinnen und Forscher, dass eine probiotische Behandlung die Anfallshäufigkeit bei Patientinnen und Patienten mit therapieresistenter Epilepsie stark reduzieren konnte.3 In einer weiteren Fallstudie wurden 5 Fälle von therapieresistenter Epilepsie beschrieben, die während einer Antibiotikabehandlung anfallsfrei wurden. Nach Beendigung der Behandlung verschwand dieser Effekt allerdings innerhalb von 2 Wochen, was hypothetisch auf eine Erholung bestimmter Darmmikroorganismen zurückgeführt werden kann.  

Dass sich das Darmmikrobiom bei Menschen mit therapieresistenter Epilepsie von dem Darmmikrobiom bei Menschen mit therapiesensitiver Epilepsie unterscheidet, deuten Daten einer chinesischen Studie an: Bei therapieresistenten Personen war im Vergleich zu therapiesensiblen Personen eine Zunahme der α-Diversität und der relativen Häufigkeit seltener Bakterien festzustellen, die hauptsächlich zum Stamm der Firmicutes gehören. Bifidobakterien und Laktobazillen wurden in beiden Patientengruppen mit weniger als 4 Anfällen pro Jahr in Verbindung gebracht.3

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