
Neurologische Komplikationen bei Covid-19
In der Akutphase von Covid-19 sowie bei dem Post-Covid-Syndrom sind neurologische Komplikationen führend. Zu beiden Krankheitsbildern diskutieren Fachleute verschiedene pathophysiologische Mechanismen. Dr. med. Fabian Bösl fasst den Wissensstand zusammen.
Lesedauer: ca. 5 Minuten
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Dieser Beitrag basiert auf dem Vortrag von Dr. med. Fabian Bösl (Berlin) auf der Neurowoche 2022: „Neurologische Komplikationen bei COVID-19“. Autorin: Dr. Linda Fischer
Häufige neurologische Symptome in der Akutphase von Covid-19 umfassen Kopfschmerz, Schwindel, Bewusstseinsstörung, Fatigue, Myalgie und Geruchs- und Geschmacksstörung. Abgesehen von Letzteren sind dies laut Dr. med. Fabian Bösl Symptome, die bereits von anderen viralen Erkrankungen bekannt sind. Zu den neurologischen Manifestationen bei Covid-19 zählen:
- zerebrovaskuläre Ereignisse (ischämische Schlaganfälle, intrazerebrale Blutungen, Sinus- und Hirnvenenthrombosen)
- entzündliche Erkrankungen wie Meningitiden, Enzephalitiden, Myelitiden
- Covid-19-Enzephalopathie
- Guillain-Barré-Syndrom (GBS)1
Eine aktuelle Arbeit teilt die neurologischen Symptome ein in Enzephalopathie, entzündliche Veränderungen (Enzephalitis, Meningitis, Myelitis), ischämische Schlaganfälle, periphere neurologische Erkrankungen (GBS, Miller-Fisher-Syndrom, Hirnnervenausfälle) und „unklassifizierte“ Symptome.2
Pathophysiologie der Akutinfektion (nicht-)immunologisch?
Derzeit diskutieren Fachleute bezüglich Pathophysiologie für die Manifestationen in der Akutinfektion nicht-immunologische und immunologische Mechanismen. Zu ersteren zählen Hypotension, Hypoxyie und Thrombosen durch Aktivierung des Gerinnungssystems in kleinen und großen Gefäßen. Immunologische Mechanismen umfassen die Ausbildung einer Autoimmunität durch Autoantikörper, die Aktivierung von Mikroglia und den Zytokinsturm.3
Eine Arbeit von 2020 teilt die immunologischen Mechanismen weiter auf in para- und postinfektiös (s. Abb. 1 in Ellul et al4). Bösl hebt hervor, dass als Vertreter der postinfektiösen virusgetriggerten Manifestationen u. a. ADEM (akute disseminierte Enzephalomyelitis) genannt wird.
Hinweise auf autoimmune Mechanismen, Kausalität nicht bewiesen
In der ersten Welle untersuchten Franke et al.5 intensivpflichtige Patientinnen und Patienten mit Covid-19 und neurologischen Symptomen, z. B. epileptische Anfälle, Myoklonien oder Störung der Okulomotorik. Die Teilnehmenden wurden lumbalpunktiert und in indirekten Immunfluoreszenz-Messungen wiesen die Forschenden Autoantikörper nach, deren Zielantigene noch nicht genau determiniert sind.
Bösl betont, dass es sich dabei um eine Vielzahl von Antikörpern handelt, die in der Studie gegen diverse Strukturen im Zentralen Nervensystem (ZNS) gerichtet waren, wie etwa im Bulbus olfactorius, Endothelzellen, hippocampalen Strukturen sowie Gliazellen und Astrozyten. Obwohl die Daten nicht beweisen, dass diese Autoantikörper ursächlich für die neurologischen Beschwerden bei Covid-19 sind, geben die Ergebnisse doch Hinweise auf autoimmune Mechanismen bei Covid-19, so Bösl.
Intravenöse Immunglobuline eine Behandlungsoption?
In einer Berliner Fallserie behandelten Ärztinnen und Ärzte 12 intensivpflichtige Personen mit schwerer Covid-19-Enzephalopathie und Delir mit intravenösen Immunglobulinen (ivIG). Bei 9 Personen besserten sich durch die Behandlung die Werte von CAM-ICU (Confusion Assessment Method for Intensive Care Unit), Richmond Agitation-Sedation Scale (RASS) und Glasgow Coma Score (GCS).6
Diese Patientinnen und Patienten profitierten also von ivIG, folgert Bösl. Dies könne darauf hinweisen, dass autoimmune oder immunologische Mechanismen bei Covid-19 eine Rolle spielen. Aber Vorsicht sei bei der Interpretation dieser Studienergebnisse angebracht, da bei Intensivpatientinnen und -patienten Störfaktoren (metabolisch, hypoxisch, medikamentös) berücksichtigt werden müssten, sodass keine finalen Rückschlüsse gezogen werden könnten.
Post-Covid-Syndrom: Neurologische Manifestationen
Halten die Beschwerden > 3 Monate über die akute Covid-19-Erkrankung hinaus an und wird keine alternative Diagnose dafür gefunden, liegt per Definition ein Post-Covid-Syndrom (PCS) vor. Die berichteten Symptome können verschiedene Organsysteme betreffen (s. Abb. 2 in Lopez-Leon et al.7), sodass ein PCS, ähnlich wie Covid-19, als Multisystem-Erkrankung betrachtet werden muss.
Bösl betont, dass die führenden Symptome neurologischer Natur sind: In der Berliner Charité wurde bereits früh eine Post-Covid-Sprechstunde etabliert, in der auch die ersten 100 Patientinnen und Patienten ausgewertet wurden.8 Etwa 2/3 der Betroffenen waren weiblich, die im Schnitt 46 Jahre alt waren und überwiegend einen milden Verlauf hatten. Die führenden Symptome in dieser Gruppe waren kognitive Störungen (72 %), Fatigue (67 %), Kopfschmerzen (36 %) und Symptome wie Myalgie, Gliederschmerzen und andere Schmerzformen wie neuropathische und thorakale Schmerzen, aber auch Geruchsstörungen und Schwindel. Dieses Ergebnis deckt sich mit anderen Publikationen, kommentiert Bösl.9
Pathophysiologie: Inflammation, Autoimmunität, Neuroinvasion?
Welche pathophysiologischen Mechanismen bei PCS diskutiert werden, fasst eine kürzlich erschienene Arbeit zusammen:10 Infolge der schweren pulmonalen Infektion werden Zytokine und Chemokine im ZNS ausgeschüttet und Mikroglia aktiviert. Es kommt zu einer Neuroinflammation. Die möglichen Folgen sind dysregulierte Neurone und Gliazellen und geschädigte Oligodendrozyten der Myelinscheiden. All das könnte die Kognition stören, so Bösl.
Des Weiteren wird die Ausbildung von Autoantikörpern diskutiert und in seltenen Fällen die Neuroinvasion. Zu Letzterem liegen jedoch nur vereinzelt pathologische Berichte vor, in denen SARS-CoV-2-RNA bei schwer betroffenen, intensivpflichtigen Patientinnen und Patienten nachgewiesen werden konnte. Zudem existieren andererseits Berichte, die keinen Nachweis für eine Neuroinvasion zeigen.
Auch die Reaktivierung latenter Viren ist im Gespräch, z. B. Epstein-Barr-Virus oder andere Herpesviren. Ein weiterer Punkt ist die endotheliale Dysfunktion mit Störungen von Gerinnungssystem, Mikrozirkulationsstörung durch Ausbildung von Fibrin-Amyloid-Clots und Aktivierung von Thrombozyten. Auch metabolische Störungen und Hypoxie werden diskutiert.
Analog zu der Studie zu den Akut-Covid-19-Patientinnen und -Patienten führte Franke et al. (Paper in Revision) bei Post-Covid-19-Patientinnen und -Patienten mit kognitiven Störungen, Liquor-Untersuchungen durch und wies auch hier Autoantikörper nach. Es zeigte sich wieder ein heterogenes Bild: Autoantikörper, die gegen Gefäße gerichtet sind, gegen Astrozyten im Hippocampus und gegen Strukturen in Kleinhirn und Hirnstamm.
Bösl hebt eine „interessante Korrelation“ zu Werten im MoCA (Montreal-Cognitive-Assessment)-Test der Patientinnen und Patienten hervor: Diejenigen Personen, die Autoantikörper im Liquor aufwiesen, zeigten einen signifikant niedrigeren MoCA-Score mit im Schnitt 24 Punkten – ein pathologischer Wert, kommentiert Bösl. Hier seien weitere Studien notwendig, die umfassende neuropsychologische Testungen einbeziehen.
Vernetzung bei Versorgung immens wichtig
In der laufend aktualisierten DGN-Leitlinie orientiert sich die Diagnostik an den Leitsymptomen. Als weitere Diagnostik, z. B. bei kognitiver Störung oder Fatigue, sollte ein MRT durchgeführt, ein Blutbild gemacht, falls möglich Liquor-Analysen durchgeführt werden, eine Testung mittels MoCA und gegebenenfalls eine neuropsychologische Testung erfolgen.
Bösl betont, wie wichtig bei der Versorgung die Vernetzung sei: In der haus- und fachärztlichen Versorgung werden die Patientinnen und Patienten idealerweise beurteilt und darüber entschieden, ob sie in der Klinik oder der Post-Covid-Ambulanz vorstellig werden müssen. Einen wichtigen Stellenwert nimmt auch die Rehabilitation ein, die sich an führenden Symptomen orientiert.11,12