
Lauterbach verspricht „Revolution“ für deutsche Krankenhäuser
Kliniken im Hamsterrad, Ärzte im Dauerstress, Pflegekräfte im Frust – die Bundesregierung sieht Deutschlands Krankenhäuser vor einem drohenden Kollaps. Eine Großreform soll nun Verbesserungen bringen.
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Eine Behandlung stärker nach medizinischen und weniger nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten: Das ist das Ziel umfangreicher Reformvorschläge, die Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach am Dienstag in Berlin vorstellte. „Die Medizin wird wieder in den Vordergrund der Therapie gestellt und folgt nicht der Ökonomie“, versprach der SPD-Politiker.
Fallpauschalen am Ende?
„Die Krankenhäuser haben gravierende Probleme“, sagte Lauterbach. Das Hauptproblem sei die Bezahlung der Kliniken über sogenannte Fallpauschalen. Das sind pauschale Sätze für vergleichbare Behandlungen - „egal wie aufwendig der Fall behandelt wird, egal, wo er behandelt wird, ob er gut behandelt wird oder nicht so gut behandelt wird“, wie Lauterbach erläuterte. Als Ergebnis kämen die Kliniken in „ein Hamsterrad“, möglichst viele Behandlungen auf möglichst billige Weise durchzuführen. „Somit hat man mit diesem System eine Tendenz zu billiger Medizin.“
Nach den Vorschlägen einer Regierungskommission zur Krankenhausversorgung sollen die Kliniken stattdessen in Zukunft nach drei neuen Kriterien honoriert werden: Vorhalteleistungen, Versorgungsstufen und Leistungsgruppen. Unter anderem sollen für das Vorhalten von Personal, einer Notaufnahme oder notwendiger Medizintechnik feste Beträge fließen.
Reform sieht drei Level für Kliniken vor
Anders als heute sollen Krankenhäuser zudem in drei konkrete Level eingeordnet und entsprechend gefördert werden. So soll es Kliniken zur Grundversorgung geben - zum Beispiel für grundlegende chirurgische Eingriffe und Notfälle. Andere Häuser sollen sich um die „Regel- und Schwerpunktversorgung“ kümmern. Hier sollen weiteren Leistungen angeboten werden. Unikliniken sollen einer dritten Gruppe zugeordnet werden, den Kliniken für die „Maximalversorgung“. Lauterbach sagte, die geplante Reform solle in den kommenden Jahren einen Schwerpunkt seiner Arbeit bilden und stelle „eine Revolution im System“ dar.
„Die Menschen können sich darauf verlassen, dass die Krankenhäuser, die wirklich gebraucht werden, zum Beispiel auch in ländlichen Gebieten und in den Stadtteilen, wo es wenig Versorgung gibt, dass diese Krankenhäuser auch überleben können, ohne dass sie immer mehr Fälle behandeln müssen“, sagte Lauterbach. Wenn ein Patient künftig behandelt werde, „kann er sicher sein, dass ökonomische Aspekte keine dominierende Rolle spielen.“
Ohne grundlegende Änderungen droht der Kollaps
Der Koordinator der Regierungskommission, der langjährige Chefarzt einer Berliner Klinik, Tom Bschor, warnte, „dass die Krankenhausversorgung kollabieren wird mit katastrophalen Konsequenzen, wenn wir jetzt nicht grundlegend reformieren“. So müsse die „Überversorgung“ in bestimmten Bereichen und die „Unterversorgung“ beispielsweise aktuell in der Kinderheilkunde gestoppt werden. Lauterbach nannte die angespannte Situation in den Kinderkliniken „nur exemplarisch für das, was das Krankenhaussystem aktuell insgesamt erleidet“.
Bschor mahnte, es gebe „schlicht nicht mehr die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um Behandlungen mit fragwürdiger Indikation durchzuführen“. Lauterbach sagte: „Viele Pflegekräfte, aber auch viele Ärztinnen und Ärzte, sie verlassen die Krankenhäuser, weil sie diesen ökonomischen Druck nicht ertragen wollen.“ Bschor sagte: „So kann es nicht weitergehen.“ Er verwies darauf, dass viele Babyboomer vor der Rente stünden. Der Personalbedarf in Kliniken mit ihrem 24-Stunden-Betrieb sei hoch. Mit dem Älterwerden der Gesellschaft seien mehr Patientinnen und Patienten zu erwarten.
Deutsche Krankenhausgesellschaft fordert Gesamtkonzept
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft forderte ein Gesamtkonzept. „Das ständige Herauslösen von Einzellösungen bringt mehr Verwerfungen als Fortschritt im System“, sagte Vorstandschef Gerald Gaß, den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Dienstag). Zuerst müsse die Finanzierungslücke bei Betriebs- und Investitionskosten der Kliniken geschlossen werden, ehe eine Umverteilung starte. Der Chef des Dachverbands der Betriebskrankenkassen, Franz Knieps, sagte: „Die Regierungskommission hat ein mutiges und interessantes Modell zur Neuordnung der Krankenhausfinanzierung vorgelegt.“ Die SPD-Abgeordnete Dagmar Schmidt sprach von einer guten Grundlage.
Das Konzept im Überblick:
Neue Fixkosten-Vergütung: Weitgehend über die Pauschalen finanzieren müssen Kliniken bisher auch feste Kosten der Grundausstattung. Darunter fallen Personal oder Medizintechnik, die für bestimmte Fälle vorgehalten wird, auch wenn sie nicht ständig genutzt wird. Dafür sollen Kliniken dem Konzept zufolge einen Anteil von 40 bis 60 Prozent der Vergütung als sicheren Sockel bekommen – unabhängig von der Zahl der Fälle. Das sei wie bei der Feuerwehr, die auch fürs „Da-Sein“ finanziert werde.
Neue Stufen: Vorgeschlagen wird, das gewachsene Netz der Kliniken in drei „Versorgungsstufen“ mit einheitlichen Mindestanforderungen einzuordnen und gezielt zu finanzieren. Häuser der wohnortnahen „Grundversorgung“ sollen für Notfälle oder grundlegende chirurgische Eingriffe da sein und ganz aus dem Fallpauschalen-System herausgehen. Dort soll es auch kombinierte Angebote von Klinik- und Praxisärzten geben können. Stufe zwei soll Kliniken mit weitergehenden Leistungen umfassen, Stufe drei die Maximalversorgung der Universitätskliniken.
Neue Leistungsgruppen: Die Klinik-Vergütung soll sich auch an genauer definierten Fachgebieten orientieren. Statt grober Beschreibungen wie „Innere Medizin“ sollen Kliniken exakter gefassten Gruppen wie etwa „Kardiologie“ zugeordnet und entsprechend vergütet werden. Das soll auch bewirken, dass zum Beispiel Krebsbehandlungen in zertifizierten Kliniken mit Spezialkenntnissen gemacht werden. Die Menschen könnten sich darauf verlassen, dass wirklich benötigte Krankenhäuser auch in ländlichen Gebieten und unterversorgten Stadtteilen überleben können, ohne dass sie immer mehr Fälle behandeln müssten, sagte Lauterbach.
Die Finanzen: Die Reform soll unter dem Strich keine zusätzlichen Kosten verursachen, erläuterte der Kommissionsvorsitzende Bschor. Es dürften medizinisch nicht nötige Behandlungen aus finanziellem Anreiz wegfallen. Schon jetzt sind die Ausgaben für die rund 1900 Kliniken der größte Einzelposten der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV). Im vergangenen Jahr fielen nach Angaben des GKV-Spitzenverbands fast 85,9 Milliarden Euro dafür an – etwa jeder dritte Euro gemessen an den gesamten Leistungsausgaben von 263 Milliarden Euro.
Der Fahrplan: Die Kommission schlägt vor, die Großoperation nicht sofort umzusetzen - sondern schrittweise und mit einer Übergangsphase von fünf Jahren.
1. dpa; 06.12.2022: Lauterbach verspricht «Revolution» für deutsche Krankenhäuser.