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Leben als Arzt

23. Dez. 2022

Menschlichkeit in der Medizin: Wie gewinnen wir sie zurück?

Menschliche Kompetenzen und Empathiefähigkeit von Ärztinnen und Ärzten sind Schlüsselelemente der Arzt-Patienten-Kommunikation. Doch gerade die Empathie geht im Zuge des Medizinstudiums und der Facharztausbildung häufig verloren. Der folgende Beitrag zeigt Möglichkeiten auf, die Menschlichkeit in den Arztalltag zurückzuholen.1–11

Lesedauer: ca. 7 Minuten

Menschlichkeit in der Medizin
Eine bewusst geförderte Entwicklung von Empathie könnte dazu beitragen, die allgemeine klinische Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit von Ärztinnen und Ärzten zu verbessern. (Foto: Getty Images / kupicoo)

Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung des Kapitels „Menschlichkeit in der Medizin“ von Christin Braun und Dr. med. Hans-Ulrich Sappok aus dem Buch „Mindful Doctor“ | Redaktion: Marie Fahrenhold

Empathie und Selbstmitgefühl als Kernkompetenzen einer menschlichen Medizin

Nach den bekannten Medizinethikern Tom Beauchamp und James Childress gibt es vier ethische Grundprinzipien, die ärztlichem Handeln und Entscheiden zugrunde liegen sollten:

  • Fürsorge,
  • Respekt vor der Autonomie der Patientinnen und Patienten,
  • Schadensvermeidung und
  • Gerechtigkeit.

Gerade im Bereich der professionellen Fürsorge können menschliche Kompetenzen von Ärztinnen und Ärzten wegweisend sein. Als eine Kernkompetenz von Fürsorge wird die Empathiefähigkeit bezeichnet. 1 Sie ist ein Schlüsselelement in der Arzt-Patienten-Kommunikation und beeinflusst die Gesundheit von Patientinnen und Patienten positiv. 2

Jedoch geht gerade die Empathie im Zuge des Medizinstudiums und der Facharztausbildung von Ärztinnen und Ärzten verloren, wie eine systematische Übersichtsarbeit der Universität Witten zeigen konnte. 2 Vor diesem Hintergrund wurde bereits gefordert, dass medizinische Einrichtungen und die zuständigen Behörden wirksame Maßnahmen finden müssen, um das Empathieniveau der Studierenden zu erhöhen. 3 Grund dafür ist – außer der dadurch besseren Behandlung der Patientinnen und Patienten – auch das Gesundheitsrisiko der Ärztinnen und Ärzte, da nachgewiesenermaßen eine verringerte Empathiefähigkeit Einflüsse auf Burnoutrisiko und die Lebenszufriedenheit von Studierenden hat. 3

Eine bewusst geförderte Entwicklung von Empathie als menschliche Grundkompetenz könnte dazu beitragen, sowohl der weit verbreiteten Vernachlässigung der Empathie entgegenzuwirken als auch die allgemeine klinische Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit von Ärztinnen und Ärzten zu verbessern. 4

„Medizin ist eine zwischenmenschliche Praxis, in der man Evidenz mit Beziehung zusammenbringen muss, in der man Sachlichkeit mit Zwischenmenschlichkeit verbinden muss. Wir brauchen Experten für die molekularen Vorgänge im Körper und zugleich Menschen, die durch diese Vorgänge hindurch immer den ganzen Menschen im Blick behalten wollen. Medizin ist nur dann Medizin, wenn sie den ganzen Menschen behandelt.“

– Giovanni Maio, Philosoph und Internist
Inhaber des Lehrstuhls für Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Differenzierung zwischen Mitgefühl und Mitleid:

Bei dem Begriff der Empathie ist es wichtig, zwischen Mitgefühl und Mitleid zu differenzieren 5:

Mitleid kann eine empathische Belastung oder Empathiemüdigkeit entstehen lassen. 6 Tatsächlich zeigen auch Neuroimaging-Studien, dass das Mitleiden mit dem Schmerz anderer dieselben Teile des Gehirns aktiviert, die auch an der Schmerzverarbeitung des eigenen Körpers beteiligt sind. 7

Mitgefühl aktiviert im Gegensatz dazu das für jemanden, der Schmerzen hat, Teile des Gehirns, die mit Belohnung, Zugehörigkeit und Schutz vor Stress verbunden sind. 8 Hilfreich bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Empathie gegenüber anderen Menschen kann die Selbstfürsorge sein, also die mitfühlende Haltung sich selbst und den eigenen Gefühlen gegenüber. So beschreibt die Forscherin Kristin Neff, dass die meisten Menschen versuchen, ihren Freundinnen und Freunden sowie Angehörigen gegenüber mitfühlend zu sein, wenn sie einen Fehler machen oder ein Unglück erleiden. 9 Jedoch neigen sie selbst dazu, viel härter mit sich selbst umzugehen und grausame Dinge zu sich selbst zu sagen, die sie niemals zu einer Freundin oder einem Freund sagen würden. 9 Die Ressource des Selbstmitgefühls nach Neff kehrt dies um, indem es erlaubt, sich selbst Unzulänglichkeiten einzugestehen und sich selbst – auch in der Rolle von Ärztinnen und Ärzten – als fehlerhafte, unvollkommene menschliche Wesen zu akzeptieren. 9 Das dem Selbstmitgefühl und der Empathie innewohnende Gefühl der gemeinsamen Menschlichkeit trägt dazu bei, sich mit anderen Menschen verbunden und nicht von ihnen getrennt zu fühlen. 9

Mangelnde Ausbildung menschlicher Kompetenzen im Arztberuf

Die Schulung (zwischen-)menschlicher Kompetenzen stellt im Curriculum des Medizinstudiums und auch in der fachärztlichen Weiterbildung einen verschwindend geringen Teil dar. Bei einer Befragung von 103 Ärztinnen und Ärzten verschiedener somatischer Fachrichtungen gaben nur zehn Prozent der Befragten an, eine Schulung zum Umgang mit Gefühlen erhalten zu haben. 10

Eine Ausnahme davon stellen psychotherapeutische Disziplinen dar, in denen eine in der fachärztlichen Weiterbildung verankerte Selbsterfahrung zur Stärkung personaler und Beziehungskompetenzen vorgeschrieben ist, die beispielsweise Themen wie die Selbstwahrnehmung, den eigenen Kommunikationsstil oder die Bewusstmachung wesentlicher Anteile des Selbstkonzeptes enthält. In Studien konnten die positiven Wirkungen und die Wichtigkeit der Selbsterfahrung im Rahmen der psychotherapeutischen Ausbildung bereits belegt werden, zum Beispiel im Hinblick auf interpersonale Fähigkeiten, Selbstwahrnehmung oder Wohlbefinden. 11

Außerhalb dieser Fachrichtungen sind jedoch noch gezielte Bildungsinitiativen erforderlich, um beispielsweise die Fähigkeit von Ärztinnen und Ärzten zu verbessern, mit Emotionen in klinischen Begegnungen umzugehen. 10 Dabei ist zu beachten, dass eine freiwillige Teilnahme an nebenberuflichen Bildungsveranstaltungen Motivation, Eigeninitiative und die Bereitschaft zur Selbstreflexion erfordert. Vorteilhaft sind dabei als ärztliche Fortbildung anerkannte Bildungsangebote, die menschliche Kompetenzen schulen. Welches Format dabei hilfreich ist, ist individuell von persönlichen Präferenzen abhängig. Beispielhafte Organisationen mit Formaten für Weiterbildungen mit Selbsterfahrungsanteil sind:

Im Folgenden wird beispielhaft im Rahmen der Bildungsinitiativen die Arbeit von Medizin und Menschlichkeit e.V. herangezogen, um die praktische Ebene der Entwicklung menschlicher Kompetenzen von Medizinern zu veranschaulichen.

Initiative zur Kompetenzbildung

Im Jahr 2009 gründete eine Gruppe junger Medizinstudierenden den gemeinnützigen Verein Medizin und Menschlichkeit (MuM). Ziel war es, einen Raum zu öffnen, in dem sich eine Haltung von Menschlichkeit und deren individuelle Verwirklichung bereits in frühen Jahren der ärztlichen Ausbildung entwickeln kann. Dafür öffnet der Verein bis heute über Veranstaltungen, ein gemeinschaftliches Netzwerk und kooperative Projekte einen Erfahrungsraum, in dem eine berührte, authentische und achtsame Art der persönlichen Begegnung erlebt und mitgestaltet werden kann. Das Erleben des eigenen Menschseins in einer Gruppe eröffnet damit das Heilungspotenzial zwischenmenschlicher Begegnung im Arztberuf. Sich selbst wahr- und anzunehmen und sich dadurch mit anderen verbunden zu fühlen ist unter dem Begriff Selbstmitgefühl eine wichtige Ressource im Gesundheitswesen. 9

„Und dann kam das Symposium von Medizin und Menschlichkeit. Mein Durst nach Informationen und Ideen wurde mehr als gestillt, denn ich lernte nicht nur etwas für meinen Klinikalltag. Ich lernte für mich; und auch für die Menschen, mit denen ich arbeitete, mit denen ich befreundet bin, die ich liebe. Beispielsweise konnte ich Gefühle nicht nur besser verstehen, ich konnte sie plötzlich auch viel besser FÜHLEN. Ich habe eine bewusste Verbindung zu mir selbst und meinen Gefühlen entdeckt. In einer medizinischen Fortbildung!“

Dr. E. Loewe, Ärztin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Nach der Erfahrung aus dem MuM-Kontext ist es bei der Entwicklung von menschlichen Kompetenzen von Ärztinnen und Ärzten essenziell, dass sie sich selbst als Mensch begreifen – mit eigenen Gefühlen, Grenzen, Verletzungen und der individuellen Biografie – und dies auch im Alltag zu (er)leben. Die folgenden eingestreuten persönlichen Erfahrungsberichte von Medizinern aus dem Feld von Medizin und Menschlichkeit e.V. sollen genau dies versuchen zu veranschaulichen und greifbar zu machen.

Ein wichtiges, hervorzuhebendes Element der Selbsterfahrung von Medizin und Menschlichkeit ist die Gruppenerfahrung, die durch zwischenmenschliche Dynamiken zur Förderung von Empathiefähigkeit und Selbsterkundung beiträgt. Bereits aus der Forschung ist bekannt, wie wichtig es bei der Entwicklung von Empathiefähigkeit ist, dass eine Differenzierung der Gefühlswahrnehmung zwischen Innen und Außen stattfindet, sodass man mit jemandem mitfühlen kann, ohne die eigenen Gefühle mit denen des anderen zu verwechseln. 7 Um dies zu trainieren, sind wirkungsvolle Methoden nötig, die solche Erfahrungsräume entstehen lassen.

Mind – Health – Change: Skills für die Next Generation Leadership

Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung des Kapitels „Menschlichkeit in der Medizin“ von Christin Braun und Dr. med. Hans-Ulrich Sappok aus dem Buch „Mindful Doctor“ von Alvar Mollik (Hrsg.), erschienen am 22. September 2022 bei der Medizinisch Wissenschaftlichen Verlagsgesellschaft.

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Über die Autoren:

Christin Braun
Christin Braun ist Ärztin und Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins Medizin und Menschlichkeit (MuM). Sie engagiert sich für die Stärkung einer menschlichen Haltung im Gesundheitswesen über ihre ehrenamtliche Arbeit bei MuM (www.medizinundmenschlichkeit.de). Mit dem Thema „Gesund Führen“ beschäftigt sich Frau Braun in ihrer Promotionsarbeit am Leadership Personality Center des Universitätsklinikums Ulm. Arbeitserfahrungen erlangte sie an verschiedenen Arbeitsplätzen in der Medizin sowie im Bauingenieurwesen, in welchem sie ihr Erststudium absolvierte.

Dr. med. Hans-Ulrich Sappok
Hans-Ulrich Sappok ist Facharzt für Allgemeinmedizin und Lehrbeauftragter an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf am Institut für Allgemeinmedizin (ifam, Prof. S. Wilm). Er ist seit zehn Jahren aktives Mitglied bei Medizin und Menschlichkeit (MuM). Nach 21 Jahren Hausarztpraxistätigkeit als „Arzt für(s) Gesunde“ ist er neben der universitären Lehre als Medical Coach und Trainer tätig u.a. mit den Werkzeugen Zürcher Ressourcen Modell (ZRM, Maja Storch) und „Positive Health“ (Machtild Huber). Sein Herzensprojekt ist zurzeit der Aufbau eines Gesundheitsortes für Gesundheitsbildung und Prävention im regionalen Raum, das aus den Wurzeln von MuM mit entstanden ist (www.zukunftsdorf-waldhof.de).

Quellen
  1. Wallis M. Caring and evidence-based practice: The human side of critical care nursing). Intensive Crit Care Nurs. 2005; 21(5): 265–7
  2. ​​Neumann M et al. Empathy decline and its reasons: A systematic review of studies with medical students and residents. Acad Med. 2011; 86(8): 996–1009
  3. Wang Q et al. Empathy, burnout, life satisfaction, correlations and associated socio-demographic factors among chinese undergraduate medical students: An exploratory cross-sectional study. BMC Med Educ. 2019; 19: 341
  4. Pedersen R. Empathy development in medical education – A critical review. Med Teach. 2010; 32(7): 593–600
  5. Neff KD et al. Caring for others without losing yourself: An adaptation of the mindful self-compassion program for healthcare communities. J Clin Psychol. 2020; 76(9): 1543–62
  6. Hofmeyer A et al. Contesting the term ‘compassion fatigue’: Integrating findings from social neuroscience and self-care research. Collegian. 2020; 27(2): 232–23
  7. Singer T, Klimecki OM. Empathy and compassion. Current Biology. 2014; 24(18): 875–8
  8. Klimecki OM et al. Differential pattern of functional brain plasticity after compassion and empathy training. Social Cognitive and Affective Neuroscience. 2014; 9(6): 873–9
  9. Neff K, Germer C. The role of self-compassion in psychotherapy. World Psychiatry. Official Journal of the World Psychiatric Association. World Psychiatry. 2022; 21(1): 58–9
  10. Schwartz R et al. Physicians, emotion, and the clinical encounter: A survey of physicians’ experiences. Patient Education and Counseling. 2022; 105(7): 2299–306
  11. Strauß B, Taeger D. Effects of personal therapy during psychotherapy training – A systematic review. Psychother Psychosom Med Psychol. 2021; 71(12): 489–98

 

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