
Ärztlicher Präsentismus: Mögliche Lösungsansätze
Erfahren Sie hier im zweiten Teil, weshalb viele Ärzte und Ärztinnen einen unzureichenden Impfschutz aufweisen und welche Mechanismen geändert werden müssten, um ärztlichem Präsentismus entgegenzuwirken.
Lesedauer: ca. 5 Minuten

Der folgende Beitrag aus dem Hamburger Ärzteblatt 11/2020 wird vertreten von Prof. Dr. med. Jörg Braun, Chefarzt Innere Medizin und Ärztlicher Direkter Klinik Manhagen und 1. Vorsitzender der Stiftung Arztgesundheit.
Konflikt zwischen widerstreitenden Werten
Im Kern ist der ärztliche Präsentismus also ein Konflikt zwischen widerstreitenden Werten: Fürsorge für Kollegen und Patienten im Widerstreit mit Selbstfürsorge. Dieser Konflikt ist verbunden mit dem Risiko, sich selbst, den Kollegen und den Patienten zu schaden (durch eigene Fehler oder Ansteckung).
2001 bezeichnete Rosvold krank arbeitende Ärztinnen und Ärzte als „hazardous heroes“ und fand eine erschreckende Zahl von weit über 50 Prozent, die auch mit ansteckenden Erkrankungen ohne weitere Schutzmaßnahmen arbeiteten. Zu diesen Infektionskrankheiten zählten z.B. Norovirus-Infektionen, aber auch Influenza. Zu der Frage, wie hoch denn das Risiko für Patienten ist, sich bei ihren kranken Ärztinnen und Ärzten anzustecken, gibt es interessanterweise praktisch keine Literatur. Allerdings erscheint es aus infektiologischer Sicht extrem unwahrscheinlich, dass eine Approbation vor der Weitergabe von Erregern schützt.
Impfschutz wird oft vernachlässigt
Erschreckenderweise haben viele Ärztinnen und Ärzte einen völlig unzureichenden Impfschutz selbst für Erkrankungen wie Hepatitis B oder Influenza. Dabei dienen diese Impfungen nicht nur dem persönlichen Schutz gerade in Anbetracht der erhöhten Exposition.
Sie dienen auch dem Schutz vor einer nosokomialen Transmission auf vulnerable Patienten, dem Schutz vor einer Übertragung auf Kollegen und Angehörige. Von daher sollte vor der Einführung einer all-gemeinen Impfpflicht gegen Masern – die ich unterstütze – zunächst ein Impfgebot für Angehörige des Gesundheitswesens durchgesetzt werden. Gründe, warum Ärzte Impfungen nicht wahrnehmen, weichen signifikant von den Gründen ab, die Patienten von Impfungen abhalten (Tab. 3).


Fazit: Ärztinnen und Ärzte arbeiten regelmäßig trotz Krankheit. Ursache hierfür sind innere (Pflichtbewusstsein, Kollegialität) und äußere Gründe (Unterbesetzung, fehlender Ersatz bei Ausfall). Möglichkeiten, gerade die infektiologischen Risiken für sich selbst zum Beispiel durch Impfen oder Schutzausrüstung zu reduzieren, werden dabei von vielen nicht genutzt. Der ärztliche Präsentismus geht mit beträchtlichen Risiken für den Arzt und für seine Patienten einher, auch wenn beide Effekte bisher unzureichend untersucht sind.
Wer kann die Mechanismen ändern?
Zur Fragestellung, wie man diese Mechanismen ändern kann, ist es zunächst einfacher zu beschreiben, wer dies eher nicht tun wird. Eine Krankenhausleitung wird zunächst kein Interesse daran haben, dass Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte nicht zur Arbeit kommen, wenn sie krank sind, da sonst viel mehr Personal vorgehalten werden müsste. Gerade in den ersten Monaten der Corona-Krise haben wir in den Krankenhäusern erlebt, welche Personallücken entstehen, wenn allein Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Atemwegsinfekten von der Arbeit ferngehalten werden.
Die Einschränkung von Leistungen infolge von Personalausfällen erfolgt nach meiner Erfahrung in den seltensten Fällen. Dass dieses nicht nur dem wirtschaftlichen Druck in Krankenhäusern und bösen Geschäftsführern anzulasten ist, zeigen die Erfahrungen in Praxen, in denen eine Leistungseinschränkung auch oft das allerletzte Mittel ist, um auf Personalausfälle zu reagieren. Ärzte werden also nicht damit rechnen können, aktiv nach Hause geschickt zu werden, wenn sie krank sind.
“Bewusstseinswandel muss individuell und strukturell erfolgen”
Ein Bewusstseinswandel kann also nur individuell und strukturell erfolgen. Eine individuelle Lösung beginnt mit der Erkenntnis, dass man ersetzbar ist und dass Krankheit zum Leben einer Ärztin oder eines Arztes ebenso gehört wie zum Leben der Patienten: Krankheit muss als planbarer Notfall verstanden werden, auf den man sich vorbereiten kann (sinnvollerweise dann, wenn man noch gesund ist): Hierzu zählt, dass man persönliche Grenzen zieht, also z.B. nicht arbeitet, wenn man Fieber hat. Schließlich müssen wir im kollegialen Miteinander von einer Kultur wegkommen, in der krank arbeiten als heldenhaft empfunden wird und nicht als unprofessionell.
Auf der strukturellen Ebene müssen wir zu einer Personalvorhaltung kommen, die krankheitsbedingte Ausfälle mit einplant. Dafür ist die Geschäftsführung verantwortlich. Personalausfälle, die darüber hinausgehen, müssen zur Reduktion der Leistung führen. Hierzu müssen vom Arbeitgeber klare Vorgaben formuliert werden, die die gelebte Praxis, zu arbeiten, wenn man krank ist, sanktionieren.
Auch in der Praxis muss für einen krankheitsbedingten Ausfall vorgesorgt werden. Dies umfasst Versicherungen zum Auffangen eines Betriebsausfalls ebenso wie vorbereitete Texte für die MFA zu eventuellen Terminabsagen. Sehr hilfreich wäre sicher auch eine kollegiale Absprache in puncto Vertretungsregelungen. In Norwegen ist es Standard, dass in jeder Kommune ein Pool von Vertretungsärzten vorgehalten wird, aus dem im Notfall jemand einspringen kann.
Tab. 4: Die neuen Werte der Ärzte: ein subjektiver Vorschlag
- hohe fachliche Kompetenz auf dem jeweiligen Gebiet
- hohe Flexibilität und Änderungsbereitschaft
- Medizin ist Teamarbeit! Denken und arbeiten in Netzwerken
- wissenschaftlich fundierte „Schulmedizin“!
- Selbstwahrnehmung (Achtsamkeit) und Selbstfürsorge
- klare politische Forderungen: ausreichende Personalstärke, zwingende Vertretungskonzepte, Verantwortung der Geschäftsführung
- Fokussierung auf ärztliche Ziele (Der Patient steht im Mittelpunkt)
- das Arztleben ist ein Marathonlauf und kein Kurzstreckensprint!
Mit eigenen Ressourcen pfleglich umgehen
Alle Ärztinnen und Ärzte sollten zu einem pfleglichen Umgang mit ihren Ressourcen kommen und Situationen, die einen 120-prozentigen Einsatz erfordern, vermeiden. Hierfür benötigen wir neue gemeinsame Werte (Tab. 4), wie sie unter anderem im Genfer Gelöbnis gefordert werden.
Wir wollen keine Helden sein, sondern auf lange Sicht unsere Arbeitsfähigkeit für uns und für unsere Familien erhalten. Wir sollten nicht zögern, unsere kranken Kollegen nach Hause zu schicken (auch wenn dies manchmal mühsam ist). Ein anderer wird dies im Zweifel nicht tun!
Über 80 Prozent der Ärzte arbeiten, auch wenn sie krank sind. Dabei ist krank arbeiten unethisch, weil es mit hohen Risiken einher geht – sowohl für den Patienten als auch den Arzt einhergeht. Die Erkrankung ist kein Hinweis auf eigenes Versagen; wir müssen uns daher nicht für die eigene Krankheit entschuldigen! Jede Ärztin und jeder Arzt muss für sich festlegen, was die Grenze für „unfit for work“ ist (z.B. Fieber, Durchfall und Erbrechen, aber auch Erkrankungen der Kinder). Angehörige und Kollegen müssen diese Grenze durchsetzen. Die Dienstvorgesetzten haben eine Verantwortung für kranke Mitarbeiter. Jedes Krankenhaus und jede Praxis muss eine Vorsorge für krankheitsbedingte Ausfälle von Mitarbeitern treffen. Schließlich sind dringend weitere wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema notwendig.
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