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Klinik-Wissen kompakt

27. Okt. 2022

Warum sind manche Infektionen asymptomatisch?

Poliomyelitis, Typhus, Covid-19 – drei Beispiele der Infektionen, die bei manchen symptomlos verlaufen, während andere daran schwer erkranken. Hier erklären vier US-Experten, woran es liegen könnte.

Lesedauer: ca. 7 Minuten

Krankenhaus Ärzte

Autorin: Judy Stone | Redaktion: Marina Urbanietz, Dr. Linda Fischer

  • Ein junger Mann aus New York ist an Polio erkrankt und seitdem gelähmt. Viele um ihn herum tragen das Polio-Virus ebenfalls in sich, zeigen jedoch keine Symptome. Was unterscheidet ihn von den anderen Infizierten?
  • Die berühmte „Typhus-Superspreaderin“ Mary Mallon hatte selbst keine Symptome, obwohl sie jahrzehntelang mit Salmonella typhi infiziert war. Sie übertrug das Bakterium auf mehr als hundert Menschen in New York, indem sie versehentlich das von ihr zubereitete Essen verunreinigte. Fünf dieser Menschen starben. Doch warum war Mary Mallon selbst asymptomatisch?
  • An Covid-19 sterben in den USA immer noch wöchentlich über 3000 Menschen. Doch schätzungsweise sind 40 bis 60% der Covid-19-Fälle asymptomatisch. Wie kann es sein, dass einige Menschen keine Symptome haben, während andere ein Atemversagen entwickeln und sterben?

Der Typhus-Mechanismus

Dr. Denise Monack, Inhaberin des Lehrstuhls für Mikrobiologie und Immunologie an der Stanford University, erklärt Medscape gegenüber den Typhus-Mechanismus: „Mikroben, die evolutionsbedingt Teile unseres Körpers besiedeln, die normalerweise nicht von Bakterien besiedelt werden, verfügen über ein ganzes Arsenal an sogenannten „Virulenzfaktoren“, das es ihnen ermöglicht, Immunreaktionen zu dämpfen oder sich vor unserem Immunsystem zu verstecken. Ein klassisches Beispiel bei S.Typhi ist seine Kapsel, ein Polysaccharid auf der Oberfläche der Zellwand, das es ihm ermöglicht, sich der Erkennung durch das Immunsystem zu entziehen.“

Laut Dr. Monack kann S.Typhi sowohl das Komplementsystem (Teil des unspezifischen humoralen Immunsystems, das zur Eliminierung von zellulären Antigenen beiträgt) als auch die Immunzellen umgehen und sich dank weiteren Virulenzfaktoren sogar in Makrophagen vermehren. Diese Fähigkeit, intrazellulär zu überleben, unterscheidet es von häufigeren gramnegativen Organismen, wie z. B. E. coli oder Klebsiella.

Dr. Monack erwähnt zudem aktuelle Forschungsarbeiten mit humanen Darmorganoiden, die mit Polioviren infiziert wurden. Diese zeigen, dass infizierte Zellen vom Rest abfallen. Bei Menschen würden sie ausgeschieden und dann von anderen Menschen aufgenommen werden. Das Ziel dieser Viren ist es, sich zu vermehren, „weil das Virus sonst in eine Sackgasse gerät… Es besteht nicht die Absicht, eine tödliche Erkrankung zu verursachen.“ Bleiben alle anderen Faktoren gleich, besteht im Laufe der Zeit ein Selektionsdruck hin zu einer geringeren Virulenz.

Die meisten Viren mit einer großen Bandbreite

Dr. Sten Vermund, Professor für das öffentliche Gesundheitswesen und Pädiatrie an der Yale School of Medicine, erklärt im Gespräch mit Medscape: „Diese Bandbreite – asymptomatisch, leicht, schwer und lebensbedrohlich – ist eigentlich gar nicht so ungewöhnlich. Das trifft auf die Grippe zu. Das gilt auch für das Humane Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) .... Diejenigen Viren, die diese Bandbreite nicht haben, sind eher die Ausnahmen – wie das Rhinovirus.“

„Viren haben unterschiedliche Altersvorlieben“

Die Infektiosität hängt unter anderem auch vom Zustand des Immunsystems und vom allgemeinen Gesundheitszustand der Person ab. Grundsätzlich sind sehr junge Säuglinge und ältere Menschen anfälliger für Infektionen. „Verschiedene Viren haben jedoch auch unterschiedliche Altersvorlieben“, so Dr. Vermund. Bei der Grippe sind es in der Regel die ganz Alten und die ganz Jungen, die am stärksten betroffen sind.

Andererseits, so Dr. Vermund weiter, „hatte die Spanische Grippe von 1918-1919 aus unbekannten Gründen eine Vorliebe für Menschen mittleren Alters und junge Erwachsene. Warum dabei ältere Menschen und Säuglinge seltener betroffen waren, verstehen wir bis heute nicht. Es gibt also die altersbedingten Faktoren und die immunologischen Unterschiede.“

Über diese immunologischen Unterschiede gibt es noch viel zu lernen. Aktuell haben wir ein paar Erkenntnisse von Säuglingen, die nur wenig oder gar nicht mit Krankheitserregern in Berührung gekommen sind und ein noch unterentwickeltes Immunsystem haben. „Ein Säugling wird relativ immun-naiv geboren und ist viele Monate lang durch die passiven Antikörper geschützt, die ihm die Mutter mitgegeben hat, sowie durch zusätzliche Antikörper in der Muttermilch“, so Dr. Vermund. „Aber langsam entwickelt der Säugling eine viel reifere Immunreaktion, wenn er ein oder zwei Jahre alt ist.“

Diese immunologische Naivität wird besonders gefährlich, wenn der Säugling oder Fötus eine der mit dem TORCH-Syndrom verbundenen Infektionen entwickelt (TORCH ist ein Akronym für Toxoplasmose, Röteln, Cytomegalovirus und Herpes Simplex). Dr. Vermund erklärt weiter: „Am schlimmsten ist es, wenn die schwangere Mutter mit diesen Viren infiziert ist, die dann den Säugling im Mutterleib befallen, bevor dieser überhaupt in der Lage ist, eine Immunreaktion zu entwickeln.“

Säuglinge verfügen über ein angeborenes Immunsystem, eine unspezifische Reaktion, zu der auch die Haut und die Schleimhäute als physische Barrieren gehören. Chemische Reaktionen führen u.a. zu Entzündungen und zur Aktivierung spezieller Fresszellen, die den eindringenden Organismus abtöten. Säuglinge haben jedoch noch nicht die für die adaptive Immunität erforderlichen antigenspezifischen Reaktionen entwickelt. Im Laufe der Monate bilden sie T-Zellen, die Viren erkennen und zerstören und B-Zellen aktivieren. B-Zellen stellen Antikörper her, die sowohl den Eindringling neutralisieren als auch andere Zellen für die Immunreaktion rekrutieren.

Lange Latenzzeit als weiterer Grund für symptomlose Infektionen?

„Tuberkulose ist ein großartiges Beispiel für Krankheitserreger, die eine lange Latenzzeit haben“, sagt Dr. William Moss, Professor für Epidemiologie und geschäftsführender Direktor des International Vaccine Access Center an der Johns Hopkins University, gegenüber Medscape: „Die Latenzzeit ist ein weiterer Mechanismus, durch den ein Virus jemanden befallen kann, ohne Symptome zu verursachen“.

Covid-19: Alter, Interferon, Zytokinsturm

„Bei Covid-19 ist das Alter das größte Risiko für einen schweren Verlauf, und das zweitgrößte Risiko ist eine schlechte Interferon-Antwort“, erklärte Dr. Vincent Racaniello, Professor für Virologie an der Columbia University, gegenüber Medscape. „Eine wirklich gute Reaktion macht die Infektion asymptomatisch“, so Racaniello weiter. „Doch wenn man wiederum zu viel Interferon hat, treten grippeähnliche Symptome auf.“

In Extremfällen kann es zu einem „Zytokinsturm“ kommen, bei dem viele entzündungsfördernde Zytokine und Proteine, wie Interferon und die Interleukine, freigesetzt werden. Diese überwältigende Immunreaktion ist für viele Covid-19-Todesfälle verantwortlich – und könnte vielleicht auch die Todesfälle durch die Grippe von 1918 erklären.

Dr. Racaniello betont, dass diese Interferon-Balance für eine Vielzahl von Organismen und in einer Vielzahl von Situationen gilt. „Die Forschung zu Darmbakterien zeigt, dass die Interferon-Immunität wichtig für die Regulierung dieser Bakterien ist, damit sie nicht pathogen werden. Wir wissen, dass sie in einem immunsupprimierten Wirt ein Problem verursachen können. Es muss also dieses Gleichgewicht herrschen. Ich denke, dass es zum Teil durch Immunreaktionen und zum Teil durch die Anwesenheit anderer Viren und Bakterien hergestellt wird“. Dr. Racaniello weist darauf hin, dass wir solche Details z. B. in Bezug auf Polio wahrscheinlich nie verstehen werden, weil es zu wenige Fälle gibt, die untersucht werden können. Dies gilt auch für andere Infektionen, die wenige Symptome verursachen.

Vieles bleibt weiterhin offen

Vieles ist noch unbekannt über die Immunität und darüber, warum manche Infektionen symptomlos verlaufen. Ein eindrucksvolles Beispiel sind die Meningokokken. Etwa 10 % bis 15 % aller Erwachsenen tragen Meningokokken in ihrer Nase, werden jedoch nicht krank. Aber gelegentlich und aus unbekannten Gründen können Menschen, die zum ersten Mal mit dem Bakterium in Berührung kommen – oft Kleinkinder, ein Jugendliche oder junge Erwachsene – innerhalb weniger Stunden an Meningitis schwer erkranken oder einen septischen Schock entwickeln und sogar sterben. Warum gibt es eine solche Bandbreite?

Die Forscherinnen und Forscher, mit denen Medscape sprach, beantworteten diese Frage, indem sie verschiedene Aspekte des Gleichgewichts zwischen Wirt und Krankheitserreger hervorhoben. Wie viel wird durch die Umwelt beeinflusst? Wie viel durch die Genetik des Wirts und die des Erregers? Welche Rolle spielen Koinfektionen?

Viele Mechanismen sind möglich

Dr. Vermund verwies unter anderem auch auf das Mikrobiom: „Ich halte das Mikrobiom für sehr relevant. Ich denke, dass das Mikrobiom der Atemwege die pathogenen Folgen von SARS-CoV-2, RSV oder Grippe verstärken oder verringern könnte. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, bis wir das alles geklärt haben.“

Auch Dr. Racaniello stimmte der Bedeutung des Mikrobioms zu: „Von Geburt an ist man genetisch bedingt für den Rest des Lebens mit einem Mikrobiom ausgestattet. Man könnte es auch als eine Art Infektion bezeichnen. Doch bestimmte Mechanismen ermöglichen es dem Menschen, mit diesen Bakterien zu koexistieren.“

Dr. Moss betonte die T-Zell-Immunität: „Die T-Zell-Immunität spielt wahrscheinlich eine viel größere Rolle beim Schutz vor schweren Erkrankungen, aber nicht vor Symptomen. Bei infizierten Personen, die wirklich asymptomatisch sind, wird wahrscheinlich die lokale Schleimhautimmunität am Ort des ersten Kontakts mit dem Virus die wichtigste Rolle spielen.“

Dr. Vermund rückt Entzündung in den Fokus: „Es gibt einige grundlegende Aspekte der Entzündung, die geklärt werden müssen. Was ist das Besondere an der menschlichen Immunantwort, bei der die Entzündungsdynamik eine wichtige Komponente ist? Und warum ist sie so häufig falsch reguliert? Warum gibt es das Phänomen des Zytokinsturms, bei dem die Immunantwort einen pathogenen Prozess zu steuern scheint? Der gesamte Bereich der Autoimmunität ist ein Beispiel dafür. Und dann sind natürlich auch die langfristigen Folgen von Infektionen ein Teil dieses großen Rätsels".

Das Fazit lautet wie immer: „Es muss mehr geforscht werden“

Wir müssen noch viel darüber lernen, warum es bei Menschen eine solche Bandbreite an Reaktionen auf den Kontakt mit Bakterien und Viren gibt. Wie Dr. Monack, Dr. Vermund, Dr. Moss und Dr. Racaniello feststellten, gibt es viele mögliche Mechanismen, die zu diesen unterschiedlichen Reaktionen beitragen. Doch um die Rolle der einzelnen Mechanismen herauszufinden, sind weitere umfangreiche Forschungsarbeiten erforderlich.

Dieser Beitrag ist im Original auf Medscape.com erschienen.

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