
"Unhaltbare Zustände": Patientensicherheit in Kliniken und Praxen
Schlechte Händehygiene, im Körper vergessene Tupfer, falsche Medikation – Medscape sprach anlässlich des Tages der Patientensicherheit am 15. September mit dem Nürnberger Kinderchirurgen und 2. Vorsitzenden des Aktionsbündnisses Patientensicherheit (APS), Dr. Christian Deindl, über die Sicherheitslage in deutschen Krankenhäusern, Praxen und Pflegeheimen. Sein Urteil fällt verheerend aus.
Lesedauer: ca. 6 Minuten

Autor: Christian Beneker | Redaktion: Dr. Nina Mörsch
Medscape: Seit 2005 gibt es das Aktionsbündnis Patientensicherheit. Aber es geht mit der Patientensicherheit im Land nur schleppend oder gar nicht voran. Ist Ihre Arbeit gescheitert?
Deindl: Wir, das APS, sind nicht der Gesetzgeber. Sondern wir sind eine gemeinnützige und neutrale Netzwerkorganisation. Sie entstand durch den Zusammenschluss von Einzelpersonen, Patientenorganisationen, Selbsthilfegruppen, Ärzte- und Pflegeverbänden, der Kassen, der Medizintechnik und weiteren Playern im Gesundheitssystem. Als solche können wir nur immer wieder auf die Missstände hinweisen und Vorschläge machen, beraten, fordern oder gut zureden. Wir können aber nichts selbst entscheiden.
Richtig ist ja: Es gibt Berge von Studien zum Thema Patientensicherheit, viele Ideen zu einer besseren Patientensicherheit, die teilweise auch vom Innovationsfonds gefördert werden, und weitere Pilotprojekte. Aber letztlich tut sich nichts Entscheidendes. Das ist nicht unser, sondern ein ordnungspolitisches Versagen.
Immerhin hat Hessen inzwischen als einziges Bundesland einen hauptamtlichen Beauftragten zur Patientensicherheit im Gesundheitsministerium installiert. In den anderen Ländern gibt es zwar einen Beauftragten für Tierschutz und den Datenschutz – aber keinen für den Patientenschutz!
Medscape: Haben die Verantwortlichen die Frage der Patientensicherheit in Ihr Haus „weg-delegiert“? Und Sie sind nun zum Feigenblatt für Patientensicherheit geworden?
Deindl: Nein, das kann man so nicht sagen. Wir sind nicht das Feigenblatt, sondern eine kritische Institution. Nehmen Sie nur unser neu verfasstes Positionspapier. Das hat wohl nicht allen im Bundesgesundheitsministerium gefallen. So kritische Worte sei man im BMG nicht gewohnt, wurde uns um ein paar Ecken signalisiert. Dabei haben wir nur höflich und konstruktiv-kritisch die Dinge beim Namen genannt.
Medscape: Wo stehen wir in Sachen Patientensicherheit?
Deindl: Wir haben in deutschen Krankenhäusern immer noch 400.000 bis 600.000 nosokomiale Infektionen im Jahr. Und wir haben 10.000 bis 20.000 Tote im Jahr wegen Hygienedefiziten. Das sind Angaben, die man auf der Homepage des Bundesgesundheitsministeriums nachlesen kann. Das heißt: Die Fakten liegen zwar offen, aber wir haben uns als Gesellschaft wohl mit diesen unhaltbaren Zuständen abgefunden.
Das Problem haben aber nicht nur die Krankenhäuser, sondern auch die Praxen der Niedergelassenen: Da wird das Stethoskop lässig um den Hals gelegt, der Arzt trägt seinen Ehering und eine Uhr, die MFA haben lackierte Fingernägel, tragen Armschmuck und Ringe. Dies sind klare Verstöße gegen die Hygiene-Richtlinien. Wenn es hier zu Klagen kommt, gehen die Prozesse bis hinein in die Straftatbestände.
Die konsequente Händedesinfektion ist längst noch nicht Standard. 2008 gab es zum Beispiel vom APS initiiert die Aktion Saubere Hände. Da sind die Hygienezahlen wirklich besser geworden. Aber Nachfolgeuntersuchungen haben gezeigt, dass die Situation nach Ende der Aktion noch schlechter als vorher war.
Kürzlich hat eine aktuelle Analyse des Wissenschaftlichen Institutes der AOK darüber berichtet, dass 2022 rund 8,3 Millionen ältere Menschen mindestens einmal ein potenziell inadäquates Medikament verordnet bekamen, womit jeder 2. der über 16 Millionen AOK-Versicherten über 65 Jahre davon betroffen war. Dabei wurde bereits 20 Jahre vorher in den Berichten zur Lage der älteren Generation die Verordnung zu vieler und oft falscher Arzneimittel kritisiert und somit den Versorgungsstrukturen der im hohen Lebensalter häufig vorliegenden Multimorbidität nicht ausreichend Rechnung getragen.
Oder denken Sie an mangelndes Entlassungsmanagement in Krankenhäusern: Da wird der Patient am Freitagnachmittag entlassen, er hat Schmerzen, aber kein Fach- oder Hausarzt hat seine Praxis mehr geöffnet – und der Patient hat weiterhin Schmerzen.
Das Ganze hat neben dem medizinethischen Aspekt auch noch wirtschaftliche Konsequenzen: Bis zu 15% der Gesamtausgaben des Gesundheitssystems sind auf Mängel in der Patientensicherheit zurückzuführen.
Medscape: Nicht nur Patienten leiden unter den Sicherheitslücken ...
Deindl: Allerdings: Wenn einem Arzt bei der Operation ein schwerwiegender Fehler unterläuft, wenn er etwa bei einer Hüft-Totalendoprothese die falsche Seite operiert, dann hat das auch Konsequenten für ihn selbst. Er wird tagelang nicht voll einsatzfähig sein. Er wird zum sogenannten Second Victim, also zum Opfer 2. Ordnung, infolge mangelnder Struktur- und Prozessqualität innerhalb einer medizinischen Einrichtung. Gleiches gilt auch für Pflege- und andere Gesundheitsberufe. Das geht vom Burnout bis zum kompletten Berufsausstieg. Wenn wir von Patientensicherheit sprechen, dann beinhaltet das auch den Faktor Mitarbeitersicherheit.
Medscape: Warum hat es die Patientensicherheit bei uns so schwer? Fehlt das Know-how? Oder ist es eine Mentalitätsfrage, ob man sich um mehr Patientensicherheit kümmert oder nicht?
Deindl: Die wesentlichen Punkte sind bekannt. Die Änderungen pro Patientensicherheit müssen zum Beispiel in Krankenhaus und Praxis von oben, von der Führungs- und Leitungsebene kommen. Wie Händedesinfektion funktioniert, weiß man auch. Dass Krankenhäuser mit vielen Operationen weniger Fehler machen als solche mit wenigen Operationen ebenfalls. Aber wahr ist auch: Wir sind Menschen mit Fehlern, die in ihrer Trägheit 50 Stundenkilometer fahren und das 30 km/h-Schild dabei einfach übersehen.
Medscape: Sie fordern den Gesetzgeber – was genau müsste er regeln?
Deindl: Als vor fast 50 Jahren für alle Autofahrer die Gurtpflicht eingeführt wurde, zählte man bis über 21.000 Verkehrstote im Jahr. Heute sind es etwa 3.500. Auch vor der Gurtpflicht hat es der Gesetzgeber zunächst mit Kampagnen versucht. Aber nur das Bußgeld hat wirklich geholfen.
Medscape: Also: Wer bei der Patientensicherheit schlampt, muss zahlen?
Deindl: Ja, im übertragenen Sinn. Aber es geht natürlich um mehr als das Bußgeld in Form einer verminderten Vergütung, weniger Investitionskostenzuschüsse oder höhere Haftpflichtprämien. Wie bereits gesagt, brauchen wir verpflichtend hauptamtliche Patientensicherheitsbeauftragte in den Gesundheitsministerien der Länder, ebenso Ansprechpartner für Patientensicherheit in den einzelnen Krankenhäusern, analog zum Hygiene-, Datenschutz- oder Brandschutzbeauftragten. Sie müssen auch die Befugnisse haben, neben gezielten Schulungsmaßnahmen wiederholte Verstöße gegen Patientensicherheitsrichtlinien zu ahnden und im Bedarfsfall als Ultima Ratio auch einmal beratungsresistentes Personal ungeachtet der jeweiligen Hierarchiestufe auszuwechseln.
Zudem brauchen wir eine nationale Koordinierungsstelle, wo die Fäden all der gut gemeinten Patientensicherheitsprojekte zusammenlaufen. Die Bevölkerung muss flächendeckend und wohnortnah sicher sein können, eine gute und sichere Behandlung zu bekommen.
Wichtig wäre auch ein „Never-Event-Register“ für die Fehler, die niemals vorkommen dürfen, etwa ein im Körper vergessener Tupfer oder eine Seitenverwechslung – nicht nur bei Implantaten.
Überhaupt brauchen wir verbindliche Standards. Klar geregelte und bewährte Vorgaben zu befolgen ist eine bessere Fehlervermeidungsstrategie und gibt zum Beispiel einem operativen Behandlungsteam mehr Sicherheit, als etwa ständig individuelle „Sonderwünsche“ einzelner Operateure bedienen zu müssen. Auch darf es nicht dem Zufall überlassen sein, welche Ärzte mit welcher Qualifikation bei einer Operation am Tisch stehen oder das Narkosegerät bedienen – um nur einige Beispiele zu nennen. Jede Behandlung und jede Maßnahme am Patienten müssen ungeachtet des Fachgebietes und des Standortes sicher sein.
Medscape: Wo stehen wir in 5 Jahren?
Deindl: Von der nationalen Gesundheitspolitik allein erhoffe ich mir aus eigener fast 40-jähriger Berufserfahrung in Hinblick auf die Patientensicherheit nicht viel. Wenn es also weiterhin kein deutsches Gesetz zur Patientensicherheit geben wird, dann müssen wir uns weiter an die WHO halten.
Der Global Patient Safety Action Plan 2021-2030 der WHO legt fest, dass bis 2030 genau 90% aller Länder der Erde ein Never-Event-Register eingeführt haben sollen. Ich hoffe sehr, dass wir als große Industrienation nicht zu den übrigen 10% gehören werden.
Dieser Beitrag erschien im Original auf Medscape.de.
Diese Themen könnten Sie auch interessieren: