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Klinik-Wissen kompakt

13. Nov. 2023
Notfall

Schwere Verätzungen nach Trinken von Rohrreiniger

Vergiftungen mit im Haushalt verfügbaren Chemikalien sind im Erwachsenenalter selten und kommen meist in suizidaler Absicht vor. Im vorliegenden Fall kam es nach Ingestion von Rohrreiniger zu starken Verletzungen des Gastrointestinaltrakts und einer lebensbedrohlichen Atemwegsschwellung und Aspiration. Lesen Sie hier, wie die Ärztinnen und Ärzte behandelten.

Lesedauer: ca. 6 Minuten

Videolaryngoskopische Sicht auf Aryknorpel und Epiglottis
Lebensbedrohliche Verätzungen nach Trinken von Rohrreiniger-Granulat (Foto: Dreamstime.com | Buradaki)

Dieser Beitrag basiert auf dem Artikel von Dr. med. Victor Suárez et al.: „Lebensbedrohliche Verätzungen und Atemwegsschwellung nach Trinken von Rohrreiniger“, in Notfall + Rettungsmedizin (https://doi.org/10.1007/s10049-023-01200-6). Redaktion: Dr. Linda Fischer

Eine 58-jährige Frau wurde vom Rettungsdienst in der Zentralen Notaufnahme der Universitätsklinik Köln mit blutigem Erbrechen, Schocksymptomatik und massiven thorakalen Schmerzen vorgestellt und im konservativen Schockraum übernommen. Die Patientin hatte unmittelbar zuvor etwa eine halbe Flasche Rohrreinigergranulat in einem Glas Wasser aufgelöst und davon mehrere Schlucke getrunken.

Sie habe damit Aufmerksamkeit erregen, sich aber nicht umbringen wollen. Durch den Notarzt waren bei ausgeprägten Schmerzen bereits 25 mg Ketanest, 5 mg Midazolam sowie 250 mg Methylprednisolon intravenös verabreicht worden. Außerdem war eine Magensonde platziert worden, welche geringe Mengen Blut förderte.

Frau ist hypoton, tachykard, erbricht blutig tingierten Schleim

Die Patientin (73 kg, 170 cm) war bei Übernahme im Schockraum wach, aber hypoton und tachykard (Blutdruck 90/70 mm Hg, Herzfrequenz HF 110/min). Neben Heiserkeit und Salivation fielen eine Schwellung von Ober- und Unterlippe auf.

Die Patientin erbrach weiterhin geringe Mengen blutig tingierten Schleim. Ansonsten war die Untersuchung unauffällig. Die Ärztinnen und Ärzte untersuchten die Patientin zudem nach dem ABCDE-Schema (Tab. 1).

„Airway“Gefährdet bei äußerlich und enoral sichtbarer Schwellung
„Breathing“Vesikuläres Atemgeräusch beidseits
„Circulation“Positiver Schockindex, bis auf tingierten Schleim kein Anhalt für äußere Blutung
„Disability“Schmerzbedingt Unfähigkeit zu schlucken
„Exposure“Gesichtsschwellung, -rötung
Tab. 1: Untersuchung nach dem ABCDE-Schema

Enorale Schleimhautverletzung, geschwollene Epiglottis, Aryknorpel

Bei der im kurzfristigen Verlauf progredienten Lippenschwellung und den massiven Schmerzen der Patientin fiel die Entscheidung zur Narkoseeinleitung und Intubation in Koniotomiebereitschaft. Neben enoralen Schleimhautverletzungen zeigte sich in der Videolaryngoskopie eine deutliche Schwellung von Epiglottis und Aryknorpeln (Abb. 1).

Videolaryngoskopische Sicht auf Aryknorpel und Epiglottis
Abb. 1: Videolaryngoskopische Sicht (Aryknorpel, roter Pfeil, und Epiglottis, grüner Pfeil) (CC BY 4.0 DEED)
Videolaryngoskopische Sicht auf Aryknorpel und Epiglottis
Abb. 1: Videolaryngoskopische Sicht (Aryknorpel, roter Pfeil, und Epiglottis, grüner Pfeil) (CC BY 4.0 DEED)

Die endotracheale Intubation gelang schließlich mit einem kleinlumigen Endotrachealtubus (Innendurchmesser 6,0 mm). Hierüber war eine suffiziente Beatmung möglich, es bestand klinisch kein Hinweis auf eine Aspiration. Die Kreislaufsituation ließ sich durch Volumengabe und niedrig dosierte Katecholamintherapie stabilisieren.

Gastroskopie zeigt Nekrose der Ösophagus- und Magenschleimhaut

Unmittelbar nach Atemwegssicherung wurde im Schockraum eine Gastroskopie durchgeführt. Diese ergab ausgedehnte Schleimhautablösungen und nekrotische Areale der Schleimhaut von Ösophagus und Magen, welche bis in das Duodenum reichten (Grad 2b–3b nach Zargar1, Abb. 2).

Endoskopiebefund Ösophagus und Magen
Abb. 2: Endoskopiebefund Ösophagus (a) und Magen (b). Ausgedehnte Schleimhautdestruktionen und Nekrosen (CC BY 4.0 DEED)
Endoskopiebefund Ösophagus und Magen
Abb. 2: Endoskopiebefund Ösophagus (a) und Magen (b). Ausgedehnte Schleimhautdestruktionen und Nekrosen (CC BY 4.0 DEED)

Die sich im Bereich des Magenkorpus und -fundus befindliche Flüssigkeit, bei welcher es sich mutmaßlich noch um Reste des in Wasser aufgelösten Abflussreiniger-Granulats handelte, wurde vollständig abgesaugt. In der anschließend durchgeführten Computertomografie (CT) des Thorax und Abdomens kamen ausgeprägte ödematöse Veränderungen im Bereich von Pharynx und Larynx sowie der Wand von Ösophagus und Magen zur Darstellung.

Eine Hohlorganperforation oder eine aktive Blutung konnte ausgeschlossen werden. Bei mäßigen pneumonischen Infiltraten beider Unterlappen bestand der Verdacht einer Aspirationspneumonie, ein Lungenödem bestand nicht.

Opiatbasierte Analgesie, parenterale Ernährung

Die beatmete Patientin wurde auf eine Intensivstation aufgenommen. Die antibiotische Therapie mit Piperacillin/Tazobactam wurde bei Aspirationspneumonie zunächst fortgeführt, ein Erregernachweis gelang nicht.

Sedierung und Beatmung konnten nach 3 Tagen beendet werden, nach 5 Tagen erfolgte die Verlegung auf die Normalstation. Die Patientin benötigte bei starken retrosternalen Schmerzen weiterhin eine opiatbasierte Analgesie sowie eine parenterale Ernährung. Von weiteren Gastroskopien wurde aufgrund des Perforationsrisikos zunächst abgesehen.

Endoskopie: Stenosierung, floride Entzündung im Hypopharynx

Etwa 14 Tage nach dem Ereignis konnte die Patientin erstmals wieder oral Flüssigkeit zu sich nehmen, über die kommenden Wochen wurde mit einem vorsichtigen Kostaufbau begonnen. Bei zunehmender Dysphagie und progredienten retrosternalen Schmerzen wurde 2 Monate nach dem Ereignis eine erneute Endoskopie durchgeführt.

Hier zeigte sich ab dem Übergang des Hypopharynx in den Ösophagus (16 cm ab Zahnreihe) eine zirkuläre, langstreckige Stenosierung mit konfluierenden Fibrinbelägen und weiterhin florider Entzündung. Eine Passage der Engstelle mit dem Standardendoskop (Durchmesser ca. 8 mm) war nicht möglich. Als Therapieoptionen bleiben hier perspektivisch nur vorsichtige Bougierungen bzw. in letzter Konsequenz die Ösophagektomie.

Ingestion ätzender Haushaltssubstanzen bei Erwachsenen selten

Die Ingestion von ätzenden Haushaltssubstanzen wird vor allem bei Kindern, seltener bei Erwachsenen beobachtet, hier hauptsächlich im Rahmen von Suizidversuchen2. Hauptbestandteil von Rohrreinigergranulaten ist – neben Aluminiumspänen – Natrium- oder Kaliumhydroxid (Ätznatron NaOH bzw. Ätzkali KOH).

Diese Substanzen bilden unter Zugabe von Wasser stark ätzende Natron- bzw. Kalilaugen. Durch Oxidation des beigefügten Aluminiums kommt es außerdem zu starker Hitzeentwicklung. Bei oraler Aufnahme führen beide Reaktionen zu thermischen und chemischen Verbrennungen unter Ausbildung von Kolliquationsnekrosen.

Klinik: blutiges Erbrechen, massive Schmerzen

Klinisch führend sind blutiges Erbrechen und massive Schmerzen in Hals und Thorax. Allerdings korrelieren, gerade bei Kindern, Symptomatik und mögliche äußerlich sichtbare Verätzungen schlecht mit dem Grad der ösophagealen/gastralen Schädigung3. Daher sollte – bei Verdacht auf eine orale Vergiftung mit Rohrreiniger – auch bei fehlenden äußerlichen Zeichen zeitnah eine Gastroskopie durchgeführt werden.

Äußere Kontaktflächen mit Wasser spülen, Wasser trinken

Die äußerlich zugänglichen Areale wie Gesicht, Mund und Augen sollten nach Kontakt mit der Substanz sofort gründlich mit Wasser gespült werden. Bei wachen Patientinnen und Patienten sollte versucht werden, durch Trinken von einem Glas Wasser möglicherweise ösophageal anhaftende Granulatreste weiterzuspülen.

Magensonde anlegen ist kontrovers diskutiert

Die Anlage einer Magensonde gelang im vorliegenden Fall atraumatisch, ihr Nutzen wird allerdings wegen des Perforationsrisikos kontrovers diskutiert. Keinesfalls sollte Erbrechen ausgelöst werden, vor allem um einen erneuten Kontakt mit der Ösophagusschleimhaut zu vermeiden. Angezeigt ist die zeitnahe Gastroskopie mit dem Versuch einer Giftelimination und zur Beurteilung des Verätzungsausmaßes.

Gefahr eines Glottisödems, daher frühzeitig Indikation zur Intubation

Neben der gastrointestinalen Verätzung kann es – wie in diesem Fall – zur Ausbildung eines Glottisödems mit der Gefahr einer lebensbedrohlichen Atemwegsobstruktion kommen. Daher sollte frühzeitig und niedrigschwellig die Indikation zur Intubation gestellt werden4. Hiermit wird das Risiko für Erbrechen und Aspiration von Lauge reduziert.

Genereller Einsatz von Kortison nicht empfohlen

Eine Aspiration der gelösten Substanz kann darüber hinaus zur Entwicklung eines toxischen Lungenödems führen. Die beginnende Ödembildung war die Rationale einer Kortisontherapie in der präklinischen Akutphase. Vom generellen Einsatz von Kortison wird bei erwachsenen Patienten abgeraten5.

Bei Kindern mit mittelgradigen Verätzungen verminderte eine 3‑tägige Kortisontherapie das Auftreten von Strikturen6, eine längere Gabe wird aber auch bei pädiatrischen Patientinnen und Patienten nicht empfohlen7,8. Neben der erwähnten Notfallgastroskopie sollte bei Nachweis von Verätzungen unmittelbar eine CT-Diagnostik von Thorax und Abdomen erfolgen. Bei Verdacht auf eine Perforation sind die notfallmäßige chirurgische Vorstellung und eine empirische antibiotische Therapie indiziert.

Fazit für die Praxis

  • Bei oraler Aufnahme bereits geringer Mengen von Rohr- oder Abflussreinigern ist eine ausgedehnte Zerstörung von Schleimhaut und Blutgefäßen des oberen Gastrointestinaltrakts möglich.
  • Initiale Maßnahmen beinhalten – neben einer suffizienten Schmerztherapie – den Versuch der Dekontamination von zugänglichen Stellen wie Gesicht und Mund.
  • Während das Trinken von Wasser eventuelle Reste aus dem Ösophagus spülen kann, sollte Erbrechen vermieden werden. Es besteht ein hohes Aspirationsrisiko mit der Gefahr der Ausbildung eines toxischen Lungenödems.
  • Akut lebensbedrohlich ist eine ödematöse Schwellung der Atemwege. Ratsam ist daher die niedrigschwellige Entscheidung zur Intubation in Koniotomiebereitschaft.
  • Die Patientinnen und Patienten sollten unbedingt in einem Haus der Maximalversorgung mit 24 h-Gastroskopiebereitschaft angemeldet werden. Bei Verdacht auf eine Hohlorganperforation ist die sofortige CT-Diagnostik und ggf. die chirurgische Vorstellung angezeigt.
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