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Klinik-Wissen kompakt

27. Nov. 2019
Kommentar

Warum werden Arzneimittel plötzlich knapp?

Hunderte Arzneimittel sind in Deutschland nicht sicher lieferbar. Selbst wichtige Krebsmedikamente sind zeitweise nicht verfügbar. Über die Ursachen wird nun spekuliert, dabei liegen sie eigentlich auf der Hand.1-4

Lesedauer: ca. 4 Minuten

Ein Kommentar Ihres Kollegen Dr. med. Horst Gross

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Für 290 Arzneimittel Lieferengpässe gemeldet

Aktuell werden für 290 Arzneimittel in Deutschland Lieferengpässe gemeldet. 1 In der Regel sind es Generika. Das hat mitunter gravierende Folgen. Etwa, wenn Kinderonkologen beim juvenilen Hodgkin-Lymphom vom hochwirksamen Zytostatikum Mechlorethamin auf das weniger wirksame Cyclophosphamid umsteigen müssen. Aber auch Banales fehlt. Selbst Ibuprofen oder Gichtpräparate sind zeitweise knapp.

Autor: Dr. med. Horst Gross, Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin
Autor: Dr. med. Horst Gross, Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin

Probleme, die in den USA schon länger bekannt sind. Dort waren monatelang sogar physiologische Kochsalzinfusionen Mangelware. Versagt hier der Markt, übertreibt die Pharmaindustrie mit ihrer Profitmaximierung oder hat die Politik nicht ausreichend interveniert? Populäre Erklärungsansätze, die, bei Lichte gesehen, aber nicht greifen.

An Preistreiberei liegt es nicht

An Preistreiberei durch künstliche Verknappung kann es nicht liegen. Der Anteil für Arzneimittel an den Gesamtkosten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist seit Jahrzehnten bei 15 % erstaunlich konstant. Auch die Gewinnmargen der führenden Hersteller machen keine Sprünge (z.B. BAYER 1995: 1,24 Mrd.; 2018: 1,7 Mrd. Euro). 2 Es liegt auch kein Marktversagen vor. Im Gegenteil: Pharmaunternehmen unterliegen den gleichen Marktgesetzen wie Autohersteller oder der Bäcker an der Ecke. Alle leben davon, etwas zu produzieren und das auch zu verkaufen. Und zwar zu einem Preis, der auskömmlich ist.

Auch kein Marktversagen

Doch während der Bäcker den Preis für seine Brötchen selbst festlegen kann, ist das bei den meisten Generika längst nicht mehr möglich. Preisvorgaben durch Monopolabnehmer (Rabattverträge mit Kassen) ersetzen zunehmend den Marktpreis. Die Pharmafirmen sind also gezwungen, ihre Kostenstrukturen entsprechend zu optimieren. Sie müssen im Ausland billiger produzieren, um am Markt zu bleiben. So werden die Firmen aber abhängig von schwer kontrollierbaren Zulieferbetrieben (z.B. China). Geht dort etwas schief, bricht die Lieferkette abrupt ab.

FDA benennt das Grundübel

Das sind die strukturellen Gründe, die in den USA mittlerweile offen diskutiert werden. In einem bemerkenswert deutlichen Positionspapier benennt etwa die amerikanische Arzneimittelbehörde (FDA) das Grundübel: Preisregulierungen. „Hersteller werden deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit Investitionen in die Herstellungsqualität minimieren und so mögliche Qualitätsprobleme provozieren, die dann zu Unterbrechungen der Lieferkette führen”, resümiert die Behörde. Unbeabsichtigt werde so ein „race to the bottom” losgetreten. 3

Wird ein Produkt knapp, springt unter funktionierenden Marktbedingungen der Konkurrent in die Lücke und erhöht seine Produktionskapazität. Bei Arzneimitteln sei dieser Mechanismus künstlich blockiert, stellt die FDA fest. „Neue Hersteller, die auf Arzneimittelengpässe durch Produktion reagieren, müssen sich zuerst einem komplexen Zulassungsverfahren unterziehen. Damit werden die sonst typischen Mechanismen, mit denen Lieferengpässe durch die Konkurrenz ausgeglichen werden, lahmgelegt”, gibt die FDA zu bedenken und fordert eine Marktliberalisierung.

Pläne der Bundesregierung gegen die Lieferengpässe

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will stärker gegen Arznei-Lieferengpässe in Deutschland vorgehen. „Patienten erwarten zu Recht, dass sie dringend notwendige Medikamente unverzüglich bekommen“, sagte der CDU-Politiker. „Das ist momentan leider zu häufig nicht der Fall.“ Der Bund werde daher wieder stärker in die Verteilung von Arzneien eingreifen.

Hier sind die konkreten Pläne in der Übersicht: 4

  • Meldepflicht: Pharmazeutische Unternehmen und Großhändler werden verpflichtet, zu versorgungsrelevanten Arzneimitteln Informationen zu Lagerbeständen, Warenflüssen und drohenden Lieferengpässen an die Bundesoberbehörden zu melden. So kann die Versorgungslage kontinuierlich eingeschätzt werden und der Bund erhält einen Überblick, wo es bei drohenden Lieferengpässen noch Restbestände von Medikamenten gibt.
  • Lagerhaltung: Um Lieferengpässe zu vermeiden, sollen die Bundesoberbehörden Unternehmen und Großhändlern für kritische Arzneimittel Vorgaben zur Lagerhaltung machen können.
  • Kennzeichnung: Arzneimittel, die in Deutschland abgegeben werden, müssen in deutscher Sprache gekennzeichnet sein. Im Ausnahmefall dürfen künftig auch Medikamente eingesetzt werden, die in ausländischer Sprache gekennzeichnet sind, sofern die Anwendung direkt vom Arzt am Patienten erfolgt.
  • Rabattausnahme: Heute verpflichten Rabattverträge die Apotheken, besonders preisgünstige Medikamente abzugeben. Sollten diese rabattierten Medikamente in der Apotheke nicht zur Verfügung stehen, sollen Apotheker künftig nach Ablauf von 24 Stunden auch alternative Arzneimittel abgeben dürfen.
  • Beirat: Die Versorgungsrelevanz von Arzneimitteln sowie Lieferengpässe und mögliche Reaktionen soll künftig ein Beirat beim BfArM bewerten. Dieser Beirat besteht aus Vertretern von Fachgesellschaften, Apothekerverbänden, Arzneimittelkommission und Pharmaunternehmen.

Lieferengpässe für Humanarzneimittel

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bietet eine Übersicht zu aktuellen Lieferengpässen für Humanarzneimittel (ohne Impfstoffe) in Deutschland an. Zur Übersicht >>

Arzneimittelengpässe in der Onkologie & Übersicht zur Situation in anderen Fachgebieten

Die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) hat am 26. November 2019 im Rahmen einer Pressekonferenz die Aktualisierung und den 9. Band der Gesundheitspolitischen Schriftenreihe „Arzneimittelengpässe am Beispiel der Hämatologie und Onkologie“ mit einer Übersicht zur Situation in anderen Fachgebieten vorgestellt.

Wollen wir wirklich eine verstaatlichte Pharmaindustrie?

Soviel Einsicht würde der deutschen Debatte um die Ursachen der Engpässe auch guttun. Stattdessen wird Pharmafirmen groteskerweise vorgeworfen, sich „wie Unternehmer [zu] verhalten, die primär gewinnorientiert sind. Und sie nehmen dabei in Kauf, dass ihr Verhalten gesundheitspolitisch unerwünschte Konsequenzen hat …”, konstatiert etwa der Arzneimittelbrief. 5 Aber wollen wir wirklich eine weitgehend verstaatlichte Pharmaindustrie mit all den unausweichlichen Konsequenzen?
Hoffentlich doch nicht!

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