Geburtseinleitung: Risikofaktor für schlechte Schulleistung?
Kinder, deren Geburt eingeleitet wurde, weisen mit 12 Jahren im Mittel schlechtere Schulleistungen auf als Altersgenossen, die nach spontan einsetzenden Wehen zur Welt gekommen sind. Das berichten niederländische Forscher um Prof. Dr. Anita Ravelli vom Department of Obstetrics and Gynecology des Amsterdam University Medical Center (UMC) in Acta Obstetricia et Gynecologica Scandinavica (AOGS).1
Lesedauer: ca. 6 Minuten

Redaktion: Dr. Nina Mörsch
Das Team wertete für eine retrospektive Kohortenstudie Daten von fast 230.000 Personen aus. Demnach ist die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder nach einer elektiven Geburtseinleitung die Sekundarstufe II erreichen, um etwa 10% geringer.
Ärzte leiten Geburten häufig ein
In Deutschland werden derzeit mehr als 20% aller Geburten eingeleitet. Zum Teil liegen medizinische Gründe vor, etwa ein Schwangerschaftsdiabetes, eine Gestose oder ein vorzeitiger Blasensprung. Am häufigsten werden die Wehen jedoch künstlich ausgelöst, weil der errechnete Geburtstermin verstrichen ist.
Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) empfehlen die Geburtseinleitung bei medizinischen Indikationen und bei einer Überschreitung des errechneten Geburtstermins von 10 Tagen. Nach 14 Tagen wird dringend zur Einleitung geraten. Dieser Empfehlung liegen Studien zugrunde, die auf ein erhöhtes Krankheits- und Sterberisiko für das Kind hinweisen, wenn der Geburtstermin deutlich überschritten ist.
Keine Belege für einen kausalen Zusammenhang
Unklar ist bislang, ob und inwieweit eine Einleitung der Geburt sich auf die neurologische Entwicklung des Kindes auswirkt. Die Arbeit von Ravelli und Kollegen sollte, da die Zahl der Geburtseinleitungen weltweit zuletzt stark zugenommen hatte, dieser Frage nachgehen.
Die Aussagekraft der Publikation gilt allerdings als begrenzt. „Der Outcome der Studie stellt lediglich eine Assoziation zwischen dem spontanen Geburtsbeginn bei reifen Kindern gegenüber der Einleitung und eines Schulleistungstests mit 12 Jahren fest“, kommentiert die Leiterin des Perinatalzentrums an der Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe der Ludwig-Maximilians-Universität München, Dr. Maria Delius. „Die Studie kann keine Kausalität belegen, auch wenn dies gerade im Abstract so klingt.“
Keinesfalls dürften aufgrund der aktuellen Publikation die gängigen Praktiken verändert werden, betont Delius. „Die Studie hat viel Potenzial, mit den falschen Schlüssen rezipiert und verstanden zu werden und damit – wenn in der Öffentlichkeit unsachlich dargestellt und wahrgenommen – auch Schaden an Müttern und Kindern anzurichten“, warnt die Medizinerin. Auch dürfe die Studie nicht in Zusammenhang mit dem Medikament Misoprostol gebracht werden, da die verschiedenen mechanischen und medikamentösen Einleitungsmethoden nicht Thema der niederländischen Untersuchung gewesen seien.
Nach 41 Schwangerschaftswochen fanden sich keine Unterschiede mehr
Die Erstautorin der Studie, Renée Burger aus Ravellis Team am UMC, und ihre Kollegen untersuchten die Schulleistungen von 226.684 Kindern im Alter von 12 Jahren, die zwischen 2003 und 2008 nach einer unkomplizierten Einlingsschwangerschaft zwischen der 37. und 42. Schwangerschaftswoche (SSW) in den Niederlanden zur Welt gekommen waren. Sie verglichen die schulischen Leistungen, getrennt für jede der 6 analysierten SSW, zwischen Kindern, deren Geburt mechanisch oder medikamentös eingeleitet worden war, und solchen, die ohne Intervention zur Welt gekommen waren.
Wie die Forscher berichten, war eine Geburtseinleitung bei jeder SSW bis zur 41. Woche im Vergleich zur spontanen Geburt mit einer verringerten schulischen Leistung der Kinder verbunden. Bei einer Einleitung der Wehen erreichten zudem weniger Kinder einen höheren Sekundarschulabschluss. Nach 38 SSW waren es beispielsweise 48% gegenüber 54% derjenigen Kinder, die ohne Intervention zur Welt gekommen waren. Bei 12-Jährigen, die erst in der 42. SSW geboren worden waren, fanden sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden untersuchten Gruppen.
Die Erstautorin der Studie, Renée Burger aus Ravellis Team am UMC, und ihre Kollegen untersuchten die Schulleistungen von 226.684 Kindern im Alter von 12 Jahren, die zwischen 2003 und 2008 nach einer unkomplizierten Einlingsschwangerschaft zwischen der 37. und 42. Schwangerschaftswoche (SSW) in den Niederlanden zur Welt gekommen waren. Sie verglichen die schulischen Leistungen, getrennt für jede der 6 analysierten SSW, zwischen Kindern, deren Geburt mechanisch oder medikamentös eingeleitet worden war, und solchen, die ohne Intervention zur Welt gekommen waren.
Wie die Forscher berichten, war eine Geburtseinleitung bei jeder SSW bis zur 41. Woche im Vergleich zur spontanen Geburt mit einer verringerten schulischen Leistung der Kinder verbunden. Bei einer Einleitung der Wehen erreichten zudem weniger Kinder einen höheren Sekundarschulabschluss. Nach 38 SSW waren es beispielsweise 48% gegenüber 54% derjenigen Kinder, die ohne Intervention zur Welt gekommen waren. Bei 12-Jährigen, die erst in der 42. SSW geboren worden waren, fanden sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden untersuchten Gruppen.
Prospektive Studien stehen noch aus
Die Ergebnisse würden zwar nicht bedeuten, dass alle Kinder, die nach einer Geburtseinleitung zur Welt kämen, schlechtere schulische Leistungen erbringen würden, betont das Team um Burger und Ravelli. Es handele sich um einen statistischen Zusammenhang, der nicht auf jeden Einzelfall übertragbar sei. Zudem hätte man vermutlich nicht alle Störfaktoren in den Analysen berücksichtigen können. Dennoch sollten langfristige Auswirkungen der Geburtseinleitung, so das Fazit der Forscher, künftig in die Beratung und Entscheidungsfindung miteinbezogen werden.
Generell sei es von entscheidender Bedeutung, dass künftige randomisierte kontrollierte Studien Langzeitmessungen in ihre Ergebnisse und Schlussfolgerungen einbeziehen, um das untersuchte Thema vollständig zu erfassen. „Während die Auswirkungen auf das einzelne Kind zugegebenermaßen gering sind, könnten die Auswirkungen auf die Gesellschaft aufgrund der hohen Zahl von Weheneinleitungen im Frühstadium groß sein“, schreiben die Autoren.
Nicht alle Störfaktoren wurden berücksichtigt
Ähnlicher Ansicht ist Prof. Dr. Sven Kehl, Oberarzt der Frauenklinik und Koordinator des Universitäts-Perinatalzentrums Franken am Universitätsklinikum Erlangen. „Die Geburtseinleitung führt zu einem früheren Beginn der Geburt und somit zu einer vorzeitigen Beendigung der Schwangerschaft“, sagt Kehl. Solch vorzeitige Beendigungen – und nicht etwa mechanische oder medikamentöse Verfahren zur Geburtseinleitung – könnten dazu beitragen, dass die Gehirnentwicklung des Kindes beeinflusst wird. „Die Ergebnisse dieser Studie legen nahe, dass die Geburtseinleitung bei unkomplizierten Schwangerschaften, bei denen keine medizinischen Gründe vorliegen, vermieden werden sollte“, sagt Kehl. In solchen Fällen solle die natürliche Geburt abgewartet werden.
Zu den Stärken der Studie gehören laut Kehl unter anderem die großen Mengen an Daten, die große Zahl an Probanden sowie die Berücksichtigung diverser Störfaktoren wie zum Beispiel das Bildungsniveau der Mutter. „Es ist aber keine Studie, aus der eine Kausalität abgeleitet werden kann“, betont auch Kehl.
Nicht alle potenziellen Störfaktoren habe man den vorliegenden Daten entnehmen können, unter anderem würden Angaben zum familiären Status, zum Bildungsgrad des Vaters, zum Rauchen eines Elternteils oder zum Body-Mass-Index der Mutter fehlen. Auch sei nur ein kleiner Teil der möglichen Indikationen für die Einleitung der Geburten bekannt gewesen.
Wunscheinleitungen sollten künftig unterbleiben
Auf das Vorgehen in deutschen Geburtskliniken habe die Studie aber vermutlich ohnehin nur einen geringen Einfluss, da die routinemäßige Geburtseinleitung ab der 39. SSW in den deutschsprachigen Ländern stets kritisch gesehen worden sei, sagt Kehl. Es gelte weiterhin, dass bei Vorliegen von Risiken eine Risiko-Nutzen-Analyse durchgeführt und die Beendigung der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der mütterlichen und/oder kindlichen Risiken in Betracht gezogen werden müsse.
„Wenn keine medizinischen Gründe für eine vorzeitige Beendigung vorliegen, sollten die Frauen auch über die möglichen Langzeitfolgen und nicht nur über die kurzfristigen Risiken aufgeklärt werden“, fordert Kehl.
Sein Berliner Kollege Prof. Dr. Michael Abou-Dakn, Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe am St. Joseph Krankenhaus in Berlin-Tempelhof, wird noch ein wenig deutlicher. „Es ist zu recht zu kritisieren, dass auch in Deutschland über 20% der Geburten eingeleitet werden“, sagt Abou-Dakn. Zwar halte er den in der Studie gefundenen Effekt der Einleitung auf die schulische Leistung für sehr fraglich. Jedoch erinnere die Untersuchung daran, dass mögliche Nebenwirkungen einer Einleitung existieren könnten. „Wunscheinleitungen oder solche ohne evidente Indikation sollten daher unterbleiben.“
Dieser Beitrag ist im Original auf Medscape erschienen.