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Gynäkologie

23. Feb. 2023

Anorexie in der gynäkologischen Praxis: Medikamentöse Therapieoptionen

Die Zahl der Anorexie-Fälle stieg zuletzt auch wegen der Corona-Pandemie enorm an. Ob und wie Ärztinnen und Ärzte in der gynäkologischen Praxis Frauen mit Anorexie medikamentös helfen können, fasst PD Dr. med. Bettina Böttcher (Innsbruck) zusammen.

Lesedauer: ca. 5 Minuten

Anorektische Teenagerin
Von Essstörungen betroffen sind zu einem Großteil weibliche Personen in der frühen Adoleszenz.1 Symbolbild (Foto: Dreamstime.com | Katarzyna Bialasiewicz)

Dieser Beitrag basiert auf dem Vortrag von PD Dr. med. Bettina Böttcher (Innsbruck) auf der DGGG 2022: „Anorexie: Rekombinantes Leptin und weitere neue Therapieoptionen?“ in der Sitzung Neues aus der gynäkologischen Endokrinologie | Autorin: Dr. Linda Fischer

Bei der Behandlung der Anorexia nervosa sind multimodale Ansätze wesentlich und medikamentöse Therapien lediglich eine Ergänzung und keine alleinige Lösung, so die kurze Zusammenfassung von PD Dr. med. Bettina Böttcher, Oberärztin an der Klinik für gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin der Medizinischen Universität Innsbruck. Die Ärztin betrachtet den gynäkologischen Teilaspekt der Anorexie und gibt einen Überblick zu kleinen Studien und experimentellen Ansätzen der medikamentösen Behandlung. Ihr Fazit:

  • Antipsychotika sind nur bei entsprechender psychiatrischer Symptomatik indiziert.
  • Der Therapieansatz mit rekombinantem Leptin ist vielversprechend – Studienergebnisse sind noch abzuwarten. Sicher seien aber jetzt schon hohe Kosten für die Therapie.

Die Kriterien einer Anorexia nervosa umfassen eine eingeschränkte Energieaufnahme, starke Angst vor Gewichtszunahme, gestörte Körperbildwahrnehmung und ein niedriges Körpergewicht (Body Mass Index BMI < 18,5 kg/m2) sowie Verhaltensweisen, die dazu beitragen sollen, dieses Gewicht zu halten oder zu verringern. Amenorrhoe ist kein Kriterium mehr.2

Hormonersatztherapie: Estradiol, Östrogen, Vitamin D, Calcium

Für die Knochen ist in der Pubertät eine kontinuierliche transdermale Gabe von Estradiol effektiv als Osteoporose-Prophylaxe mit zyklischer Progesteron-Applikation. Ist die Patientin präpubertär, kann die Pubertät mit der Gabe von Östrogenen in ansteigender Dosierung induziert werden – am besten in Zusammenarbeit mit Ärztinnen und Ärzten der pädiatrischen Endokrinologie.

Vitamin D und Calcium können supplementiert werden. Ovulationshemmer mit Ethinylestradiol können hingegen die Knochendichte verschlechtern, weshalb von der Pille als Knochenprophylaxe abgesehen wird, erklärt Böttcher.2–4

Olanzapin: wenig Einfluss auf BMI, kein Effekt auf psychologische Symptome

Das atypische Neuroleptikum Olanzapin wurde über 16 Wochen an 152 erwachsenen anorektischen Personen (96 % Frauen, mittlerer BMI 16,7 kg/m2) untersucht und mit Placebo verglichen. Das Ergebnis: Unter Olanzapin stieg der BMI mäßig signifikant an (0,26 vs. 0,1), ein positiver Effekt auf psychologische Symptome blieb aus.5,6

Eine andere Untersuchung konnte eine verbesserte Zwangssymptomatik nach 10 Wochen zeigen. Laut Leitlinie handelt es sich aber um eine begrenzte Evidenz und andere kleine Studien konnten diesen Effekt nicht reproduzieren. Eine Indikation für Antipsychotika besteht also nicht bei der Anorexia nervosa allein, sondern nur, wenn entsprechende Begleitsymptome vorliegen, kommentiert Böttcher.7–9

Aripiprazol: größere Wirkung auf BMI als Olanzapin

Zur Wirkung des partiellen Dopamin D2 Rezeptor-Agonisten Aripiprazol nennt Böttcher Ergebnisse eines Essstörungsprogramms mit 106 Adoleszentinnen (14/15 Jahre), die keine Psychotherapie annahmen. Die Forscherinnen und Forscher sahen bei ihnen einen Effekt von Aripiprazol auf den BMI (18,4 vs. 19,8 kg/m2), der größer ausfiel als unter Olanzapin.10

Bisphosphonate: höhere Knochendichte, keine Routineanwendung

Die klare Empfehlung zu Bisphosphonaten in der Leitlinie: Sie sollten nur gemeinsam mit Ärztinnen und Ärzten der pädiatrischen Endokrinologie eingesetzt werden. Aufgrund der dünnen Datenlage wird die Behandlung in der Leitlinie nicht als klinische Routineanwendung empfohlen. Kleine Studien mit oralem Risedronat (täglich 5 mg über 9 Monate oder einmal wöchentlich 35 mg über 12 Monate) bei erwachsenen anorektischen Patientinnen zeigen, dass die Knochendichte um bis zu 4,9 % ansteigt.11

Eine andere Untersuchung zeigte bessere Ergebnisse, wenn Risedronat mit dem rekombinanten Wachstumsfaktor IGF-1 kombiniert wurde, im Vergleich zu Risedronat allein (n = 90).12

Ghrelin: Gewichtszunahme, hohe Abbruchrate

Auch hierzu liegen nur kleine randomisierte kontrollierte Studien (RCT) vor: Das appetitanregende Hormon Ghrelin sorgte beispielsweise in einer Studie mit 22 Patientinnen für eine kürzere Entleerungszeit des Magens und somit zu weniger Völlegefühl und einer höheren Gewichtszunahme als unter Placebo (0,86 vs. 0,04 kg).13 Allerdings war die Abbruchrate sehr hoch, gibt die Ärztin zu bedenken.

Rekombinantes Leptin bewirkte z. t. Normalisierung der Hormone

Die Wirkung von Leptin basiert auf dem Belohnungssystem und Veränderungen der Hypothalamus-Hypophysen-Achse in Anpassung an den Hungermodus (s. Abb. 5 in Hebebrand et al.): Wird wenig Nahrung aufgenommen, sinken die Leptin-Level und der Transkriptionsfaktor STAT3 in dopaminergen Neuronen, sodass der Dopamintonus steigt. Die physische Aktivität erhöht sich und das Körpergewicht sinkt. Die Gabe von Leptin bewirkt weniger Dopamintonus, sodass das Bedürfnis einer Hyperaktivität sinkt, was sich dann wiederum auf das Körpergewicht auswirkt, führt Böttcher aus.14

Zur Wirkung von Leptin bei Frauen mit hypothalamischer Amenorrhoe aufgrund von körperlicher Anstrengung oder Untergewicht stellt Böttcher beispielhaft eine kleine RCT-Studie mit 8 Patientinnen vor. Die Teilnehmerinnen wurden zunächst über einen Monat untersucht und erhielten anschließend für bis zu 3 Monate rekombinantes Leptin.

Die Patientinnen wurden im Schnitt über (± SD) 8,5 ± 8,1 Monate beobachtet und bereits nach 2 Wochen konnte wieder eine Pulsatilität des luteinisierenden Hormons (LH) und Follikelwachstum (≥ 11 mm) nachgewiesen werden. Auch präovulatorische Follikel (≥ 18 mm) konnten gezeigt werden. Es traten ovulatorische Zyklen auf und die Forschenden konnten gestiegene Werte für IGF-1, Schilddrüsenparameter fT3 und fT4, Knochenphosphatase und Osteocalcin beobachten.15

In einer weiteren RCT-Studie16,17 bei Frauen mit hypothalamischer Amenorrhoe über 36 Wochen konnte der Zyklus bei 6 der 11 Patientinnen unter Leptin-Behandlung wieder hergestellt werden. Auch die gemessenen Hormone Östradiol, Progesteron, fT3-Spiegel und IGF-1 stiegen wieder an. Die Werte für Cortisol fielen hingegen ab.

Der Effekt dieser Veränderungen auf das Gewicht war jedoch minimal, schränkt Böttcher die Ergebnisse ein. Positiv hebt sie hervor, dass auch noch nach 2 Jahren eine tendenziell höhere Knochendichte gemessen wurde, obwohl die Leptin-Gabe nur 36 Wochen erfolgte.17

Nebenwirkungen von rekombinantem Leptin umfassen:

  • Bildung von Anti-Metreleptin-Antikörpern
  • Kopfschmerzen
  • Übelkeit
  • Hypoglykämie
  • Gewichtsverlust
  • Reaktionen an der Injektionsstelle
  • Lymphom (als Langzeitwirkung)15,17

Leptin senkt Aktivität und innere Unruhe

In einer weiteren Mini-Studie wurden 3 Patientinnen mit schwerer Anorexie und Hyperaktivität über 14 Tage mit rekombinantem Leptin behandelt. Das Ergebnis: Die Aktivität und die innere Unruhe sanken. Der Gedankenkreis um Nahrung und Essen sowie depressive Symptome nahmen für die Dauer der Behandlung ab. Böttcher weist darauf hin, dass verlässliche Ergebnisse noch ausstehen.14,18

Aktuelle Forschung zur individualisierten Therapie

In der aktuellen Forschung zu Essstörungen spielt auch die Erforschung metabolischer Prozesse eine Rolle, so Böttcher. Es werde auf individuelle Unterschiede eingegangen, beispielsweise hinsichtlich bestimmter Enzyme und Fettsäuren, um die Pathophysiologie der Erkrankung besser zu verstehen.19 Auch das Mikrobiom sei ein Teil der Forschung, auf der die Hoffnung für künftige Therapieoptionen ruhen.20,21

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