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Covid-19 in der Praxis

07. Mai 2021

Menschen mit Grippe-Impfung erkranken seltener und weniger schwer an Covid-19

Die Grippe-Impfung – eine Abwehr auch gegen SARS-CoV-2? Das zumindest legt eine Studie nahe, die fand: Wer dieses Angebot zur Prävention nutzt, infiziert sich seltener mit Covid-19 als Nicht-Geimpfte, und falls doch, dann hat er eher einen milderen Verlauf.1

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Empfehlung zur Grippeimpfung

„Die Ständige Impfkommission STIKO befürwortet natürlich den Appell, sich gegen Grippe impfen zu lassen, aber das Argument, dass man damit gleichzeitig einen gewissen Schutz gegen Coronaviren erwirbt, werden wir nicht aufgreifen“, stellt jedoch Prof. Dr. Thomas Mertens klar, Sprecher der STIKO-Arbeitsgruppe Influenza am Robert Koch-Institut (RKI).

„Darin sind Prof. Dr. Stefan Kaufmann, Emeritus-Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie, und ich in langen Diskussionen übereingekommen, auch bezüglich der BCG-Impfung. Schon länger deuten ja Studien an, dass Menschen mit Grippe-Impfung weniger anfällig für Covid-19 sind oder zumindest leichtere Symptome haben“, so Mertens.

Spekulation über Bonus der Grippe-Impfung ist nicht neu

Darüber berichten auch Dr. Anna Conlon von der Universität Michigan in Ann Arbor und ihre Kollegen: Eine Analyse von mehr als 92.000 Infizierten aus Brasilien fand bei jenen mit Influenza-Impfung eine Verringerung von Mortalität, Intensivpflege und invasiver Beatmung. Epidemiologische Studien in Italien und den USA ergaben ebenfalls niedrigere Sterberaten.

Trotzdem hat die STIKO nach Mertens‘ Worten gute Gründe für Skepsis: „Die Arbeitsgruppe von Conlon hat ja vorhandene Daten retrospektiv ausgewertet. Jedoch ist zu unklar, ob die Kollektive von Geimpften und Nicht-Geimpften wirklich vergleichbar sind. Es handelt sich um spannende Indizien, aber von einem überzeugenden Durchbruch kann man nicht sprechen.“

So lasse sich auch die entscheidende Frage nicht beantworten, ob der beobachtete Gewinn auf die Influenza-Impfung an sich oder vielmehr auf assoziierte Faktoren zurückgeht.

Kreuzreaktivität käme als Ursache in Frage

Die Argumente pro Kausalität beruhen auf der Annahme einer Kreuzreaktivität: Untersuchungen zufolge gibt es plausible Anhaltspunkte, dass Impfungen biologische Mechanismen anstoßen, die nicht nur die eigentlichen Pathogene, sondern auch andersartige Erreger bekämpfen. Urheber dieser unspezifischen Kreuzreaktivität ist wohl vor allem das angeborene Immunsystem mit Makrophagen und natürlichen Killerzellen. Das Team um Conlon zählt Beispiele auf:

  • Impfungen gegen Polio, Haemophilus Influenza Typ B, Masern-Mumps-Röteln, Varizellen, Hepatitis A oder B haben offenbar ebenfalls den Bonus, Covid-19 abzuhalten.
  • Ein Influenza-Impfstoff stimuliert Immunzellen nach Kontakt mit Corona-Viren zu vermehrter Ausschüttung von Zytokinen.
  • Das BCG-Vakzin gegen Tuberkulose beugt auch Atemwegsinfekten, Gelbfieber, Malaria und sogar einigen Tumoren vor.

Es gibt aber auch Argumente kontra Kausalität: „Der Schutzeffekt lässt sich durchaus mit Eigenschaften, Verhalten und Lebensumständen jener Menschen erklären, die sich um Prävention bemühen. Zum Beispiel wäre möglich, dass sie sozioökonomisch begünstigt sind“, erläutert Mertens.

Konkret heißt das: Sie genießen privat und beruflich Privilegien wie großzügige Wohnungen und Homeoffice, wo sie weniger exponiert sind. Mertens verweist darauf, dass in Conlons Studie der Anteil von Bürgern mit afrikanischen Wurzeln, einer benachteiligten Bevölkerungsgruppe, unter den Infizierten dreimal so hoch (36%) war wie unter Nicht-Infizierten.

Leben Geimpfte einfach gesünder und vorsichtiger?

Weiterhin könnten Menschen, denen an einer Grippe-Impfung gelegen ist, eher auf ihre Gesundheit achten und folglich tatsächlich gesünder sein, so dass sie gegen Erkrankungen wie Covid-19 widerstandsfähiger sind, Healthy-User-Effekt genannt. Und eventuell befolgen sie sorgfältiger die derzeit geltenden Regeln: Mund-Nasen-Maske, Händewaschen, Lüften, Abstand, Kontaktbeschränkungen.

„Das altbekannte Problem von Kausalität versus bloße Korrelation lässt sich nur mit gut geplanten prospektiven Studien lösen. Das gilt eben auch für den Zusammenhang von Grippe-Impfung und Covid-19“, sagt Mertens. Solche Studien sind einer Mitteilung zufolge unter anderem an der Universität Michigan bereits im Gange.

Fake News gaben der Grippe-Impfung die Schuld an Corona

Als Motivation zu ihrer Kohortenstudie führen Conlon und ihre Kollegen an, dass die Erfahrungen vom Winter 2020/2021 wichtig werden könnten. Denn es sei ungewiss, wie lange SARS-CoV-2 kursiert, so dass die nächste Grippesaison eventuell erneut mit der Pandemie zusammenfällt.

Ein weiteres Anliegen war der Mitteilung zufolge, Gerüchte in sozialen Netzwerken zu entkräften, wonach die Grippe-Impfung Covid-19 verursache. Daten, die eher auf das Gegenteil verweisen, könnten prominenten Medien Schützenhilfe leisten, die solche Fake News schon entlarvt hatten.

In den Krankenakten von Michigan Medicine, einer der größten Kliniken des Bundesstaates, identifizierten die Forscher rund 27.000 Patienten, die zwischen Februar und Juli 2020 auf Covid-19 getestet worden waren – ab Mai herrschte dort Testpflicht.

Bei 4,9% jener 14.000 Teilnehmer, die in den 12 Monaten zuvor die Grippe-Impfung versäumt hatten, fiel das Ergebnis positiv aus, dagegen nur bei 4% von fast 13.000 mit dieser Impfung – ein Unterschied, der auf den ersten Blick gering erscheint, tatsächlich aber eine um 24% verringerte Wahrscheinlichkeit bedeutet (Odds Ratio 0,76).

Die Assoziation blieb auch nach der Kontrolle für andere Variablen wie ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Alter, Body-Mass-Index (BMI), Raucherstatus und viele Begleiterkrankungen signifikant.

Geimpfte kamen schneller aus der Klinik nach Hause

Wenn der Test Coronaviren anzeigte, überstanden Geimpfte die Infektion besser: Sie benötigten seltener eine Klinikaufnahme (32% zu 46%) und halb so oft eine mechanische Beatmung (10% zu 20%), zudem dauerte der stationäre Aufenthalt mit 12 zu 16 Tagen kürzer (Risk Ratio 0,76). Bei Intensivpflege (19% zu 25%) und Sterblichkeit (knapp 8%) war die Reduktion lediglich nicht-signifikant.

Dass die Zahlen für Patienten mit Influenza-Impfung so günstig ausfielen, ist umso bemerkenswerter, weil sie eigentlich stärker gefährdet waren, nämlich tendenziell häufiger Komorbiditäten wie chronische Lungenleiden, Herzinsuffizienz, Diabetes und Bluthochdruck aufwiesen, außerdem älter waren. „Die Ergebnisse könnten dazu beitragen, Menschen zur Grippe-Impfung zu ermuntern und die Impfmüdigkeit abzubauen“, bilanzieren die Autoren.

Pandemie hat 2020 die Grippe-Impfung angekurbelt

Auch die STIKO hatte im Herbst 2020 mit Blick auf die Pandemie den üblichen Rat bekräftigt, besonders Risikogruppen sollten die Grippe-Impfung in Anspruch nehmen. Das diene nicht nur dem eigenen Schutz, sondern helfe außerdem, Engpässe in Kliniken – an Personal wie an Intensivbetten und Beatmungsplätzen – zu vermeiden. Denn Menschen ab 60 Jahre oder mit Grunderkrankungen hätten sowohl bei Influenza als auch bei Covid-19 ein erhöhtes Risiko für Komplikationen.

Der Aufruf hatte Erfolg: Von März bis Dezember 2020 erfolgten rund 3,5 Millionen mehr Grippe-Impfungen als zur gleichen Zeit 2019.
In den Jahren zuvor ließ die Teilnahme am Influenza-Impfprogramm sehr zu wünschen übrig: In der Saison 2018/19 war nur höchstens die Hälfte der chronisch Kranken dazu bereit, bei den Älteren nur ein Drittel – weit entfernt also von der offiziell angepeilten 75%-Marke.

Plädoyer für Freiheit mit Verantwortung

Ein Lichtblick allerdings: „Erstmals ist die Grippewelle in der vergangenen Saison durch die Corona-Maßnahmen praktisch flachgefallen“, so Mertens. Das bedeute aber keineswegs, dass sich die Grippe-Impfung dadurch erübrigt: „Ich hoffe nicht, dass Sorglosigkeit um sich greift. Das wäre keine seltene Reaktion auf den Rückgang einer Erkrankung, weil die Gefahr dann als gering eingeschätzt wird.“

Es könnte ja zum Beispiel sein, dass die Corona-Restriktionen an Weihnachten aufgehoben werden. „Dann wäre zu befürchten, dass viele aus lauter Begeisterung über die wiedergewonnene Freiheit jede Vorsicht vergessen – obwohl doch genau zu dieser Jahreszeit die Grippesaison startet.“

Dieser Beitrag ist im Original erschienen bei Medscape.

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