Mehr Atemwegserkrankungen nach Covid-19 – wo ist der Zusammenhang?
Vergangenen Herbst litten Kinder in China früher und häufiger als üblich an Atemwegserkrankungen. Ähnlich war es für Infektionen mit dem Respiratorischen Synzytialvirus in Europa und in den USA, vor allem in den Jahren 2021 und 2022. Rita Rubin, leitende Redakteurin bei JAMA, hat sich auf die Suche nach möglichen Erklärungen gemacht.1
Lesedauer: ca. 7 Minuten

Autor: Michael van den Heuvel | Redaktion: Dr. Linda Fischer
„Immunitätsschuld“ und „Immunitätsdiebstahl“
„Die Leute machen sich viele Gedanken über den Mechanismus“, sagt Dr. Wolfgang Leitner, Chef der Abteilung für angeborene Immunität am National Institute of Allergy and Infectious Diseases. Ein Großteil der Diskussion drehte sich um die Begriffe „Immunitätsschuld“ (Immunity Debt) und „Immunitätsdiebstahl“ (Immunity Theft), die im Zuge von Covid-19 entstanden seien und so in keinem Lehrbuch vorkämen.
„Immunitätsschuld“ bezieht sich dabei auf die geringere Ausbreitung anderer Krankheitserreger durch nicht-pharmazeutische Interventionen (NPI), die zur Eindämmung der Ausbreitung von SARS-CoV-2 angeordnet worden sind. Anfang Januar dieses Jahres ergab eine PubMed-Suche nach „Immunitätsschuld“ nur 22 Treffer, wobei der älteste Artikel von französischen Forscherinnen und Forschern im Mai 2021 veröffentlicht worden ist.
„Der Mangel an Immunstimulation aufgrund der verringerten Zirkulation mikrobieller Erreger … führte zu einer ‚Immunitätsschuld‘, [die] negative Folgen haben könnte, wenn die Pandemie unter Kontrolle ist und die NPI aufgehoben werden“, schreiben die Autorinnen und Autoren.
Wie sieht dies in der Praxis aus? Laut einer Erklärung der Weltgesundheitsorganisation vom 22. November 2023 führen etwa chinesische Behörden den Anstieg der Grippe-ähnlichen Erkrankungen in ihrem Land auf die Aufhebung der Covid-19-Beschränkungen und die Verbreitung bekannter Erreger wie Influenza und Mycoplasma pneumoniae zurück, nicht auf einen neuen Infektionserreger.
Impfstoffe hätten, wie Leitner betont, einen doppelten Nutzen. Sie schützen vor der Krankheit, auf die sie abzielen, aber sie induzieren auch eine unspezifische Immunität gegen andere, nicht verwandte Erreger (heterologe Immunität).
Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sprechen jedoch von „Immunitätsdiebstahl“: ein Begriff, der etwa in PubMed nicht zu finden ist. Geprägt hat ihn Dr. T. Ryan Gregory, ein Evolutionsbiologe an der Universität von Guelph in Ontario, Kanada. Dahinter steckt die Hypothese, dass SARS-CoV-2 einige Menschen, die Covid-19 hatten, anfälliger für andere Infektionen macht. Keiner der beiden Begriffe sei jedoch wissenschaftlich fundiert, so Gregory.
Wie kommt es zur „Immunitätsschuld“?
Auswirkungen der Einführung und Aufhebung von nicht-pharmazeutischen Interventionen auf andere Infektionskrankheiten seien keineswegs überraschend, so Dr. William Hanage. Er ist stellvertretender Direktor des Center for Communicable Disease Dynamics an der Harvard T.H. Chan School of Public Health. Maßnahmen, die ergriffen worden seien und sich als äußerst wirksam erwiesen hätten, um Covid-19 unter Kontrolle zu bringen, hätten auch andere Infektionen verhindert.
Die Beobachtung ist keineswegs neu, wie ein Blick in die Literatur zeigt. Während eines Streiks der Beschäftigten des öffentlichen Nahverkehrs in Paris ab 30. November 1995 blieben viele Menschen zu Hause: auch Kinder, die ihre Kindertagesstätte ansonsten mit Bus oder Bahn erreicht hätten. Die Zahl der pädiatrischen Patientinnen und Patienten mit Bronchiolitis, einer Atemwegsinfektion, die im Winter häufig bei Säuglingen und Kindern auftritt und in der Regel durch RSV (Respiratorisches Synzytial-Virus) verursacht wird, verringerte sich kurz nach Beginn der Arbeitsniederlegungen deutlich. Nach Ende des 3-wöchigen Streiks kam es jedoch zu einem sprunghaften Anstieg.
Einer der wichtigsten Einflüsse auf die Muster saisonaler Infektionen sei die Immunität der Bevölkerung, die im Laufe der Zeit abnehme, schreiben Dr. Alasdair Munro und seine Kolleginnen und Kollegen. Munro forscht an der Universität Southampton, UK. Allerdings, so Munro, werde der Begriff „Immunitätsschuld“ teilweise fehlinterpretiert, um zu sagen, dass es schlecht für die persönliche Immunität sei, wenn man bestimmten Krankheitserregern im Allgemeinen nicht ausgesetzt sei.
RSV-Infektionen – ein Problem in Zusammenhang mit der Pandemie
Da zu Beginn der Pandemie nur wenig RS-Viren im Umlauf waren, gingen die Titer virusspezifischer Antikörper, die vor schweren Erkrankungen schützen, vor allem bei Erwachsenen zurück.
Das Problem seien aber, wie Leitner betont, Neugeborene. Sie benötigen RSV-Antikörper ihrer Mutter, was ihnen einen gewissen Schutz bis zum Alter von 3 bis 6 Monaten bietet.
In den letzten Jahren haben bei RSV-Infektionen nicht nur die Fallzahlen stark zugenommen. Eine in JAMA Pediatrics veröffentlichte Studie liefert auch Hinweise, dass Kinder, die derzeit mit einer RSV-Infektion ins Krankenhaus eingeliefert wurden, kränker waren als vor der Covid-19-Pandemie. Darüber hinaus stieg das Durchschnittsalter der mit RSV hospitalisierten Kinder von 5,3 Monaten vor der Pandemie auf 6,3 Monate im Jahr 2021 und weiter auf 8,2 Monate in den Jahren 2022 bis 2023.
Nicht nur negative Effekte der „Immunitätsschuld“
Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 scheinen auch positive Auswirkungen zu haben, wie Veröffentlichungen zeigen. So wurde beispielsweise die Yamagata-Linie der Influenza-B-Viren seit März 2020 nicht mehr isoliert. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten, sie sei „ausgestorben“.
Und von 2019 bis 2022 ist die Zahl von Asthmaanfällen bei dunkelhäutigen Erwachsenen in den USA von 29,3 % auf 22,1 % gesunken, so eine nationale Erhebungsstudie, die kürzlich veröffentlicht wurde. Diese Personengruppe weist normalerweise höhere Asthma-Raten als hispanische oder hellhäutige Erwachsene auf. Die Autorinnen und Autoren schreiben, dass der Rückgang der Exazerbationen chronischer Atemwegserkrankungen zumindest teilweise auf die geringere Verbreitung häufiger Atemwegsviren zurückzuführen sei.
Der „Immunitätsdiebstahl“ – was ist bekannt?
Doch wie kommt es zum „Immunitätsdiebstahl“? Fast alle viralen Atemwegsinfektionen verursachen Störungen des Immunsystems. Das gilt speziell für schwere Infekte. Nach einer akuten viralen Atemwegsinfektion „befindet sich das Immunsystem im Reparaturmodus“, erklärt Leitner. „Während dieses Reparaturzyklus wird das Immunsystem unterdrückt. Menschen, die an einer Grippe sterben, sterben in der Regel an einer sekundären bakteriellen Infektion, die diese Unterdrückung des Immunsystems ausnutzt, und nicht an der Grippe selbst“, so Leitner.
„Dass es nach einer akuten Infektion eine Phase erhöhter Anfälligkeit gibt, ist nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich“, sagt Prof. Dr. Nathaniel Erdmann von der University of Alabama at Birmingham Heersink School of Medicine. Allerdings würden solche Effekte in der Regel nach 20 bis 30 Tagen abklingen.
Doch, wie Erdmann betont, sei dies keine Erklärung für Long-Covid. In einem von ihm mitverfassten Übersichtsartikel kommen die Autoren zu dem Schluss, dass einige Symptome von Long-Covid auf eine chronische Immunaktivierung und auf persistierende SARS-CoV-2-Antigene zurückzuführen sein könnten.
Eine kleine Studie, die im August 2023 in Cell veröffentlicht worden ist, hat ergeben, dass eine schwere Covid-19-Erkrankung langanhaltende Veränderungen des Immunsystems verursachen kann, die jedoch auf eine anhaltende Aktivierung und nicht auf eine Unterdrückung zurückzuführen sind.
Die Forscherinnen und Forscher verglichen Blutproben von 57 Personen, von denen sich einige von einer schweren Covid-19-Erkrankung oder anderen schweren Krankheiten erholten, mit Kontrollen. Sie fanden Unterschiede in der Genexpression von hämatopoetischen Stamm- und Vorläuferzellen (HSPC), also Vorläufern verschiedener Immunzellen.
Bei den genesenden Patientinnen und Patienten waren diese Unterschiede mit einer höheren Produktion weißer Blutkörperchen verbunden, die offenbar mehr entzündungsauslösende Botenstoffe produzieren. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuteten, dass Interleukin-6 die Veränderungen in der Genexpression verursacht.
Widersprüchliche Befunde aus Studien
Eine kürzlich durchgeführte Studie ergab, dass US-amerikanische Kinder nach Covid-19 ein deutlich höheres Risiko hatten, an RSV zu erkranken.
Die Forscherinnen und Forscher analysierten Daten von 1,7 Millionen Säuglingen und Kindern im Alter bis zu 5 Jahren. Aus dieser Gruppe untersuchten sie RSV-Infektionen bei etwa 229.000 Kindern ohne vorherige RSV-Infektion, die Ende 2022 einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchten. Die Autorinnen und Autoren fanden heraus, dass das Risiko einer RSV-Infektion bei Kindern mit einer früheren SARS-CoV-2-Infektion bei 6,4 % lag, verglichen mit 4,3 % bei den entsprechenden Kindern ohne vorherige SARS-CoV-2-Infektion.
Die Forscherinnen und Forscher führten auch eine separate Studie mit ähnlichen Ergebnissen durch, an der etwa 371.000 Kinder ohne vorherige RSV-Infektion teilnahmen, die im Juli 2021 und August 2021 einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchten. Diese Analyse ergab ein Risiko von 4,85 % für eine RSV-Infektion bei Kindern, die Covid-19 hatten, verglichen mit 3,68 % bei den Kindern, die kein Covid-19 hatten.
Munro spekuliert jedoch, dass der Unterschied in den RSV-Raten wahrscheinlich nicht auf Covid-19 zurückzuführen sei. Eine erhöhte Wahrscheinlichkeit von RSV bei Kindern, die Covid-19 hatten, „ist absolut das, was wir erwarten würden“, weil Eltern, die ihre Kinder auf Covid-19 testen ließen, sie auch auf RSV testen würden, erklärte er.
Im Gegensatz zu den Ergebnissen der Studie mit Kleinkindern ergab eine Kohortenstudie mit dänischen Erwachsenen im Alter von mindestens 50 Jahren, dass Personen, die sich von Covid-19 erholt hatten, im Vergleich zu Personen, die nicht mit SARS-CoV-2 infiziert waren, kein erhöhtes Risiko für Krankenhausaufenthalte wegen anderer Infektionskrankheiten aufwiesen. Der Impfstatus zum Zeitpunkt der Covid-19-Infektion schien keinen Unterschied zu machen.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fanden heraus, dass Personen, die wegen Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert worden waren, eher wegen einer anderen Infektionskrankheit stationär behandelt wurden als Personen, die nie an Covid-19 erkrankt waren. „Es überrascht nicht, dass Personen, die wegen einer bestimmten Art von Infektion im Krankenhaus waren, eine höhere Wahrscheinlichkeit hatten, später wegen einer anderen Infektion ins Krankenhaus eingeliefert zu werden“, so die Autorinnen und Autoren.
Keine Frage, SARS-CoV-2 schädigte das Immunsystem, sagt Leitner. „Was ich nicht weiß und was nicht gezeigt wurde: Wie viel trägt das zu den Ausbrüchen bei, die wir sehen? Meine Theorie ist, dass es dazu beiträgt, aber es ist sicherlich nicht der einzige Grund.“
Dieser Beitrag ist im Original auf Medscape.com erschienen.

