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Covid-19 in der Klinik

29. Sep. 2022
Einschätzungen von Experten zu Bidens Aussage

Ist die Pandemie vorbei? 

US-Präsident Joe Biden spricht davon, dass die Pandemie vorbei ist. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sagt, das Ende sei in Sicht. Und sogar New York City hat die meisten seiner Covid-19-Regeln aufgehoben.

Lesedauer: ca. 8 Minuten

Joe Biden
(The White House)

Autorin: Kathleen Doheny | Redaktion: Christoph Renninger

Bidens Äußerung (die gegenüber dem Reporter Scott Pelley in der Sendung „60 Minutes“ gefallen ist) hat die Debatte über Covid-19 erneut entfacht, auch wenn er inzwischen zweimal versucht hat, seine Einschätzung abzuschwächen. Bidens Äußerung hat die ohnehin schon gespaltene Öffentlichkeit aufgewühlt, zu einer ausführlichen Berichterstattung in den Fernsehnachrichten geführt und Experten veranlasst, Partei zu ergreifen.

Viele sind der Meinung, dass eine Pandemie nicht für beendet erklärt werden kann, wenn allein in den USA täglich mehr als 71.000 neue Fälle und mehr als 400 Todesfälle auftreten und es weltweit täglich 500.000 Fälle und fast 2.000 Todesfälle gibt.

Bidens Bemerkung hat Mediziner und Experten für öffentliche Gesundheit gespalten. Einige bestreiten vehement, dass die Pandemie vorbei ist, und weisen darauf hin, dass Covid-19 in den Vereinigten Staaten nach wie vor einen öffentlichen Gesundheitsnotstand darstellt, dass die WHO Covid-19 noch immer vor als globale Pandemie einstuft und dass SARS-CoV-2 in den USA immer noch täglich über 400 Menschen tötet.

Ähnlich äußert sich auch Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach im Interview mit der ARD: Biden habe „epidemiologisch nicht Recht“, weil es auf vielen Orten der Welt noch Infektionen gäbe. Medizinisch, so Lauterbach weiter, sei die Äußerung zwar nicht richtig, aber er könne gut verstehen, dass Präsident Biden auch im Hinblick auf die wichtigen Midterms eine persönliche positive Einschätzung zur Lage abgegeben habe.

Andere Personen weisen darauf hin, dass der größte Teil der Bevölkerung durch Impfung, Infektion oder eine Kombination davon geschützt ist, zumindest im Moment. Sie sagen, es sei an der Zeit, das Ende der Pandemie einzuläuten und zu akzeptieren, was ein Großteil der Gesellschaft bereits beschlossen hat. Die Stimmung wird vielleicht am besten in einem umstrittenen neuen Slogan zu Covid-19 in New York wiedergegeben: „You Do You“.

Eine neue Umfrage der Medienseite Axios und ihres Partners Ipsos, die am 13. September 2022 veröffentlicht wurde, ergab, dass 46% der Amerikaner sagen, sie seien zu ihrem Leben vor der Pandemie zurückgekehrt – der höchste Prozentsatz seit Beginn der Pandemie. Gleichzeitig sagen 57%, dass sie immer noch zumindest etwas besorgt wegen SARS-CoV-2 sind.

 Ein Balanceakt

„Wie kann ein Land sagen, dass die Pandemie vorbei ist?“, fragt Dr. Eric Topol, Executive Vice President von Scripps Research und US-Chefredakteur von Medscape.

Topol ist der Ansicht, dass das Problem noch lange nicht gelöst ist und dass ein Gleichgewicht zwischen dem Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Möglichkeit für den Einzelnen gefunden werden muss, je nach Risikotoleranz zu entscheiden, wie er sein Leben gestalten möchte.

„Man kann die Öffentlichkeit nicht einfach im Stich lassen und sagen: ‚Es liegt an euch.‘“ Topol ist der Ansicht, dass dieser Ansatz die Übernahme von Verantwortung verweigert und möglicherweise dazu führt, dass die ohnehin schon zögerliche Öffentlichkeit die neueste Auffrischungsimpfung – den bivalenten Impfstoff, der seit Anfang des Monats in den USA erhältlich ist – nicht annimmt.

Topol prägte den Ausdruck „Covid-Kapitulation“ bereits im Mai, als die USA mitten in einer Infektionswelle durch die BA.2-Variante des Coronavirus steckten. Er hat den Ausdruck diesen Monat erneut verwendet, nachdem das Weiße Haus erklärt hatte, dass COVID-19-Impfstoffe bald wie die jährliche Grippeimpfung nur noch einmal im Jahr benötigt würden. 

Topol sieht nun Hoffnungsschimmer, die aber von der Realität eingeholt werden: „Das Ausmaß der zirkulierenden Viren nimmt derzeit ab“, sagt er. „Wir werden ein paar ruhige Monate haben, aber dann wird das Infektionsgeschehen wieder zunehmen.“ Er und andere beobachten neu auftretende Varianten, darunter die Untervariante BA.2.75.2, die leichter übertragbar ist als BA.5.

Das Weiße Haus hat dies bereits im Mai eingeräumt, als es vor bis zu 100 Millionen Infektionen in diesem Herbst und der Möglichkeit eines erheblichen Anstiegs der Todesfälle gewarnt hatte. 
Das Institute for Health Metrics and Evaluation an der University of Washington geht davon aus, dass derzeit etwa 760.000 Menschen in den USA mit Covid-19 infiziert sind. Diese Zahl wird bis Ende des Jahres auf mehr als 2,48 Millionen ansteigen, warnt die Gruppe.

Eine neue Phase?

„Aus Sicht der öffentlichen Gesundheit befinden wir uns eindeutig immer noch in einer Pandemie“, sagt Dr. Katelyn Jetelina, Expertin für Gesundheitspolitik. Jetelina gibt Your Local Epidemiologist, einen Newsletter über Wissenschaft für Verbraucher, heraus. 

„Die Frage ist: In welcher Phase der Pandemie befinden wir uns? Es handelt sich nicht um einen Notfall, bei dem die Marine mit Schiffen anrückt [wie sie es getan hatte, um den Krankenhäusern bei der Bewältigung der vielen Covid-Patienten im Jahr 2020 zu helfen]. Das größte Problem bei diesem Kommentar [von Biden] ist, dass wir all diese Todesfälle normalisieren. Sind wir damit einverstanden, dass SARS-CoV-2 die dritthäufigste Todesursache ist? Ich war von dieser Bemerkung enttäuscht“, sagt Jetelina. 

Selbst wenn die Menschen individuell über ihre Covid-19-Schutzmaßnahmen entscheiden, müssten sie immer noch an andere denken, erinnert Jetelina. Sie persönlich berücksichtige ständig, wie sich ihre Aktivitäten auf ihre Mitmenschen auswirken. Sie sagt zum Beispiel: „Wir fahren zu meinem Großvater, und alle machen vorher einen Antigentest.“

Auch wenn jüngere, gesündere Menschen ihre Schutzmaßnahmen lockern können, sollten sie sich dennoch der Menschen in ihrem Umfeld bewusst sein, die einem höheren Risiko ausgesetzt sind, sagt Jetelina. „Wir können die Verantwortung nicht nur auf die Schwachen abwälzen. Unsere Schutzmechanismen sind nicht perfekt.“

Wie Topol schlägt auch Jetelina vor, die Umstände zu berücksichtigen. Sie empfiehlt kleine Schritte, um die Übertragung gemeinsam zu reduzieren und gefährdete Personen zu schützen. „Greifen Sie zu Ihrer Maske, bevor Sie eine Hochrisiko-Situation betreten, und machen Sie einen Antigentest, bevor Sie ins Pflegeheim gehen.“

Das Schlimmste hinter uns?

„Die Mission ist noch nicht erfüllt“, sagt Prof. Dr. William Schaffner, Infektiologe und Präventivmediziner an der Vanderbilt University in Nashville. Wenn er Bidens Kommentare umschreiben könnte, sagt er, „hätte er etwas sagen können wie ‚Das Schlimmste liegt hinter uns‘“, während er für den neuen Impfstoff wirbt und verspricht, dass es weitere Fortschritte geben wird.

Auch Schaffner räumt ein, dass ein Großteil der Gesellschaft die Pandemie in gewisser Weise für überwunden hält. „Die große Mehrheit der Menschen hat ihre Masken abgenommen, geht wieder in Konzerte und Restaurants und will in der Gesellschaft funktionieren“, sagt er.

Schaffner versteht das. Er schlägt daher vor, dass das öffentliche Gesundheitswesen an diejenigen, die besonders gefährdet sind – wie Erwachsene über 65 Jahren und Menschen mit bestimmten Krankheiten –, die Botschaft aussenden sollte, Maske zu tragen und Social Distancing zu praktizieren, vor allem wenn die Grippesaison näher rückt. 

Diese Botschaften sollten auch diejenigen, die keine Schutzmaßnahmen mehr ergreifen, an die gefährdeten Mitglieder der Gemeinschaft erinnern, erklärt Schaffner, damit diejenigen, die weiterhin Masken tragen, nicht von denen, die sich nicht mehr schützen, schlecht behandelt werden.

Fokus auf die Schwächsten

Bidens Aussage „hätte besser formuliert werden können“, sagt Dr. Paul Offit, Experte für Infektionskrankheiten und Direktor des Vaccine Education Center am Children's Hospital of Philadelphia. Aber die Dinge seien heute anders als Anfang 2020. „Wir befinden uns in einer anderen Situation. Jetzt ist der größte Teil der Bevölkerung gegen schwere Krankheiten geschützt [entweder durch Impfung, Infektion oder eine Kombination aus beidem].“ 

Die Auswirkungen dieses Schutzes zeigen sich bereits in entsprechenden Anforderungen oder darin, dass Anforderungen fehlen, so Offit. Zu Beginn der Pandemie „haben wir in unserem Krankenhaus [für die Mitarbeiter] den Covid-19-Impfstoff vorgeschrieben“. Jetzt werde das Krankenhaus den neuen bivalenten Impfstoff nicht mehr vorschreiben.

Auch Offit ist der Meinung, dass der Schwerpunkt in Zukunft auf den Schwächsten liegen sollte. Darüber hinaus sollten Menschen ihre eigenen Entscheidungen auf der Grundlage ihrer individuellen Umstände und ihrer Risikotoleranz treffen.

Eine wichtige und sich abzeichnende Frage ist laut Offit, dass Wissenschaftler herausfinden müssen, wie lange Menschen durch die Impfung und/oder eine frühere Infektion geschützt sind. Der Schutz vor Klinikaufenthalten und schweren Erkrankungen sei das Ziel der Impfung und das einzig vernünftige Ziel – nicht die Eliminierung des Virus, meint Offit.

Biden „ hat Recht“

Prof. Dr. Leana Wen, Notfallmedizinerin an der George Washington University und häufige Kommentatorin in den Medien, vertritt die gegenteilige Ansicht: Biden sollte seine Aussage, die Pandemie sei vorbei, nicht zurücknehmen: „Er hat Recht.“

Sie sagt, die USA seien in eine endemische Phase eingetreten, was sich in sozialen Maßnahmen – viele Menschen gehen wieder zur Schule, arbeiten und reisen – sowie in politischen Maßnahmen zeige, da an vielen Orten Vorschriften und andere Anforderungen gelockert oder abgeschafft wurden.

Über die wissenschaftlichen Maßnahmen herrsche Uneinigkeit, so Wen. Einige sagen, dass über 400 Todesfälle pro Tag immer noch zu hoch sind, um von einer endemischen Pandemie sprechen zu können. „Wir werden SARS-CoV-2 nicht ausrotten; wir müssen damit leben, genau wie mit HIV, Hepatitis und Grippe.Nur weil es [ihrer Ansicht nach] keine Pandemie ist, bedeutet das nicht, dass das Ausmaß der Krankheit akzeptabel ist oder dass Covid-19 nicht mehr unter uns ist.“ 

Für Wen ist die Berücksichtigung der öffentlichen Gesundheit im Gegensatz zu einer persönlichen Perspektive keine Entweder-oder-Entscheidung. „Nur weil etwas keine Pandemie mehr ist, heißt das nicht, dass wir aufhören, uns darum zu kümmern“, sagt sie. „Aber ich glaube, [viele] Menschen leben in der realen Welt. Sie sehen, dass Familie und Freunde wieder zu Verabredungen gehen, in Restaurants gehen und keine Maske tragen. Covid-19 ist zu einem Risiko geworden, wie viele andere Risiken auch, denen sie in ihrem Leben begegnen.“ 

Das Spannungsverhältnis zwischen öffentlicher Gesundheit und individueller Gesundheit bestehe fort und werde sich nicht auflösen, so Wen. Und das gilt für alle Gesundheitsthemen. Die Verlagerung von der allgemeinen öffentlichen Gesundheit auf individuelle Entscheidungen „ist das, was wir erwarten und was passieren sollte“.

Wen wies auch auf die Kosten der Maßnahmen zur Bekämpfung von Covid-19 hin, einschließlich der Schließung von Schulen und Unternehmen und deren Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und die Wirtschaft – sowie auf weitere, weniger diskutierte Kosten: die Auswirkungen auf das Vertrauen in die öffentliche Gesundheit.

Die Forderung nach Maßnahmen gegen Covid-19, obwohl die Fälle zurückgehen, könnte das Vertrauen in die Gesundheitsbehörden noch weiter schwächen. Nachdem der Staat New York kürzlich den Gesundheitsnotstand ausgerufen hatte, nachdem Polioviren in Abwasserproben gefunden worden waren, fragt sich Wen: „Was passiert eigentlich, wenn wir sagen: ‚Lass dein Kind gegen Polio impfen‘?“ 

Dieser Beitrag ist im Original erschienen bei Medscape.

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