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23. Juni 2022
Podcast

Stress im Arztalltag: Welche Strategien helfen?

Steigende Arbeitsbelastung, Erschöpfung und Wunsch nach beruflicher Veränderung – erst kürzlich machte wieder eine Umfrage auf die angespannte Situation in den Kliniken aufmerksam. Frau Dr. Werner spricht regelmäßig mit Ärztinnen und Ärzten, die am Ende ihrer Kräfte sind. Wir haben sie gefragt, wie Ärztinnen und Ärzte Krisensituationen vorbeugen können und welche Methoden in akuten Fällen schnell helfen. Heraus kamen einige praktische Tipps, die im Alltag umsetzbar sind.

Lesedauer: ca. 17 Minuten

Die Themen:

  • Keine freie Minute – wie kann ich mich dennoch vor Überlastung schützen? [04:00]
  • Warum haben Ärztinnen und Ärzte die Selbstfürsorge verlernt? [08:00]
  • Wie schaffe ich es, tatsächlich etwas zu verändern? [10:00]
  • Was bringen Hypnose und Balint-Gruppen? [12:00]
  • Welche Methode hilft in akuten Krisensituationen? [17:00]

Viel Spaß beim Hören!

Dauer: 10 Minuten

Redaktion: Nathalie Haidlauf, Sebastian Schmidt

Das Interview in voller Länge zum Nachlesen

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Nathalie Haidlauf: Hallo und herzlich Willkommen zum coliquio Podcast „Wissenschaft Kompakt“. Mein Name ist Nathalie Haidlauf und heute widmen wir uns ganz fokussiert einem Thema: Stress im Arzt Alltag: Welche Strategien helfen? Um Antworten auf diese Frage zu finden, haben wir heute einen Gast in der Sendung. Dr. Sabine Werner ist Fachärztin für Dermatologie und mittlerweile auch beratend tätig – und zwar rund um die Themen Resilienz und Stresskompetenz. Sie spricht im Rahmen ihrer Tätigkeit regelmäßig mit Ärztinnen und Ärzten, die an der Belastungsgrenze sind. Und ich spreche heute mit ihr darüber, was Ärztinnen und Ärzte selbst tun können, um Überlastungen und Krisen vorzubeugen. Ich begrüße Sie ganz herzlich, Frau Dr. Werner. Schön, dass Sie heute dabei sind.

Dr. Sabine Werner: Vielen Dank, Frau Haidlauf.

Nathalie Haidlauf: Frau Dr. Werner, Sie sind bei ReMed tätig und unterstützen dort Ärztinnen und Ärzte in psychisch belastenden Situationen. Was genau macht ReMed denn? Können Sie das kurz erklären?

Dr. Sabine Werner: Ja, gerne. ReMed ist ein Unterstützungsnetzwerk für Ärztinnen und Ärzte in Krisensituationen in der Schweiz. Das ist ein Angebot der FMH – das ist der Berufsverband der Schweizer Ärztinnen und Ärzte. ReMed bietet eine kollegiale Beratung auf Augenhöhe. Das heißt, wir haben innerhalb der ganzen Schweiz ein Netzwerk von beratenden Kolleginnen und Kollegen, die entweder nach telefonischer Kontaktaufnahme, per Mail oder über unsere Homepage ein oder zwei Stunden einer kostenfreien Erstberatung auf Augenhöhe anbieten.

Nathalie Haidlauf: Und mit welchen Problemen wenden sich denn Ärztinnen und Ärzte derzeit an sie? Was sind die ausschlaggebenden Faktoren oder Auslöser, die Menschen dazu bringen, sich Hilfe zu holen?

Dr. Sabine Werner: Das ist eigentlich über die Jahre relativ gleichgeblieben. Das Angebot von ReMed gibt es ja schon seit über zehn Jahren. Sehr häufig wenden sich die Kollegen an uns mit Belastungen, also Überlastung am Arbeitsplatz, drohendes Burnout zum Beispiel, mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie, schlechte Work-Life-Balance und dergleichen, aber auch bis hin zu wirklich manifesten Depressionen und behandlungsbedürftigen Symptomen und Erkrankungen.

Nathalie Haidlauf: Sie sagen, Ärztinnen und Ärzte brauchen heute Stresskompetenz? Was genau meinen Sie damit? Was verbirgt sich denn dahinter?

Dr. Sabine Werner: Na ja, Stress haben wir ja irgendwie alle. Das ist natürlich auch eine Sache der Anschauung, was eigentlich Stress ist. Aber letztendlich bedeutet Stress, dass es ein Ungleichgewicht gibt zwischen den Anforderungen, die an mich gestellt werden, und den Ressourcen oder Möglichkeiten, die ich sehe, um diese Situation zu bewältigen. Und da hat sich in den letzten Jahren natürlich einiges geändert – und die letzten zwei Jahre waren sicher ganz besonders fordernd für viele von uns, sowohl privat als auch beruflich. Und ja, wenn die Anforderungen größer und die Reserven kleiner werden, dann braucht es gute Strategien, um mit solchen Herausforderungen umzugehen. Und da ist das Zauberwort Resilienz, also diese innere Stärke und Widerstandskraft, an solchen Herausforderungen sogar noch zu wachsen.

Nathalie Haidlauf: Wie erlangt man denn die Resilienz? Oder: Wie können Ärztinnen und Ärzte vorbeugen, damit es gar nicht erst zur Krisensituation kommt?

Dr. Sabine Werner: Das Vorbeugen ist natürlich das Wichtigste und da sind wir Ärztinnen und Ärzte leider nicht die Spitzenreiter, was die gesunde Selbstfürsorge betrifft. Es ist vielleicht ein bisschen wie im Flugzeug, wo dann der Film kommt mit den Sicherheitshinweisen: „Setzen Sie sich erst selbst die Sauerstoffmaske auf, dann helfen Sie anderen“. Das ist etwas, was wir Ärztinnen und Ärzte schnell vergessen. Und damit könnte es eigentlich anfangen, bessere Resilienz aufzubauen. Widerstandskraft – das heißt, dass man erst mal bei sich selber anfängt und zulässt und wahrnimmt, dass wir auch nur Menschen sind und bestimmte Grundbedürfnisse haben und endliche Energiereserven – und wahrscheinlich nicht besonders gute Medizin machen können, wenn wir selber erschöpft sind. Da gibt es sogar Studien dazu, dass Ärztinnen und Ärzte, die beruflich unzufrieden sind – was ja dann auch häufig mit der Entwicklung von Burn-out-Symptomen zusammenhängt – tatsächlich auch eine geringere Behandlungsqualität erzielen, sodass sogar mehr Fehler auftreten. Ich sage dann häufig im Coaching „Wenn Sie es schon nicht für sich selbst tun, dass Sie mehr Gutes für sich tun, dann tun Sie es wenigstens für Ihre Patienten“.

Keine freie Minute – wie kann ich mich dennoch vor Überlastung schützen?

Nathalie Haidlauf: Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Ärztinnen und Ärzte sich eben so sehr in diesem Hamsterrad empfinden, dass da eben wenig Raum für Selbstfürsorge bleibt. Und wenn ich mir jetzt überlege, wie ich Resilienz aufbauen oder meine Stresskompetenz stärken kann, dann habe ich ja zahlreiche Möglichkeiten – Achtsamkeitsübungen, Meditation usw. Wie finde ich denn raus, was zu mir passt und wie bringe ich es denn tatsächlich im Arbeitsalltag unter? Denn viele Ärztinnen und Ärzte sagen ja, sie haben schlicht und einfach keine freie Minute, um da etwas für sich zu tun. Was empfehlen Sie denn diesen Ärztinnen und Ärzten?

Dr. Sabine Werner: Ich bin ja ein begeisterter Anhänger des lösungsfokussierten Ansatzes und setze das auch in meinen Coachings ein. Und da geht man eigentlich immer davon aus, erst mal zu schauen, was schon funktioniert. Das heißt, man baut immer auf Ressourcen auf – und nicht auf Defiziten. Das heißt, wenn Sie jetzt zum Beispiel eine Ärztin wären und würden mich fragen „Ja, wie finde ich denn heraus, was zu mir passt?“ Dann würde ich wahrscheinlich erst einmal fragen „Was haben Sie denn bisher gemacht? Was hat Ihnen bisher schon das Gefühl gegeben „Das spendet mir wieder Energie, wenn es mir nicht so gut geht oder der Akku leerläuft“. Häufig gebe ich dann die Hausaufgabe, im Alltag zu beobachten, was der Person Energie zieht und welche Dinge Energie spenden.

Und das muss nicht gleich ein Meditationskurs sein, sondern das kann auch mal ein Spaziergang durch den Wald sein oder einfach ein Gespräch mit einer Kollegin oder mit einer Freundin. Das können ganz einfache Dinge sein. Es hilft immens, wirklich mal im Alltag zu beobachten: „Was hilft mir dabei mich besser und energiegeladener zu fühlen?“ Im Zweifel kann man das einfach mal ausprobieren. Und das setzt natürlich Zeit voraus. Und dieses Argument, dass die Zeit fehle, höre ich sehr oft in Coachings. Und an der Stelle kann man sich vielleicht überlegen: Jeder Mensch auf der Welt hat 24 Stunden Zeit am Tag. Nur machen wir alle ganz unterschiedliche Dinge damit. Das heißt, die Verantwortung zu entscheiden, wofür ich mir die Zeit nehme und wofür nicht, liegt letztlich bei mir. Und wenn es zu einem Burn-out kommt, dann hat man auf einmal viel Zeit. Meistens dauert es dann 3 bis 6 Monate, in denen man Zeit hat, darüber nachzudenken, was vorher falsch gelaufen ist.

Und das ist auch der Grund, warum ich in der Regel wirklich sehr kleine Schritte empfehle, um Resilienz aufzubauen. Zum Beispiel hilft es schon, zu reflektieren, welche Pausen man überhaupt macht. Man kann beispielsweise Micro-Pausen implementieren von wenigen Minuten Dauer – und das bringt häufig schon sehr viel. Und darauf kann man dann aufbauen. Es ist ein einfacher Anfang und ein Übernehmen von Verantwortung für sich selbst, anstatt nur über die schlechten Rahmenbedingungen zu schimpfen im Sinne von „Ich bin das Opfer und kann da eh nichts machen“. Denn so kann man keine Resilienz aufbauen – es beginnt mit der Übernahme von Selbstverantwortung.

Nathalie Haidlauf: Das klingt auch nach einem ganz praktikablen ersten Schritt, sozusagen selbst zu beobachten im Alltag: „Was tut mir gut, was tut mir nicht gut?“ Dafür braucht es ja noch keine Verhaltensänderung, sondern einfach nur die Achtsamkeit. Und vielleicht gibt es da auch Missverständnisse. Also ich könnte mir auch vorstellen, manche denken, sie müssten jetzt dringend eine Runde joggen gehen oder sich mit Freunden treffen, um wieder die Energiereserven aufzuladen. Und merken dann danach „Das hat mir jetzt irgendwie doch nicht so viel gebracht. Vielleicht war es das Falsche in dem Moment“. Daher klingt es für mich ganz plausibel, besser darauf zu achten, was wirklich die Dinge sind, die einen stärken.

Warum haben Ärztinnen und Ärzte die Selbstfürsorge verlernt?

Dr. Sabine Werner: Ja, das ist ja auch genau die Krux von uns Ärztinnen und Ärzten. Wir sind so sehr darauf gepolt, die Bedürfnisse der anderen wahrzunehmen, dass wir es fast verlernt haben, auf uns selbst zu hören. Wenn man beispielsweise an die Ausbildung denkt: Man steht stundenlang am OP-Tisch und assistiert und wird im Grunde genommen darauf trainiert, keinen Hunger oder Durst zu empfinden, den Drang auf Toilette zu müssen zu unterdrücken und dergleichen. Und so unterdrücken wir auch sehr erfolgreich eigene Bedürfnisse und eigene Gefühle. Und deshalb ist es so wichtig, das Hamsterrad ab und zu mal bewusst anzuhalten und rauszugehen – selbst wenn es nur für eine kurze Kaffeepause ist, oder eine Mittagspause oder ein abendlicher Spaziergang von der Arbeit nach Hause. Das reicht auch manchmal, dass man einfach die Gegebenheiten nutzt, die da sind, um überhaupt erst mal zu merken: „Wie geht es mir überhaupt? Ist der Akku voll oder ist er leer?“

Nathalie Haidlauf: Das ist vielleicht auch noch mal ein ganz gutes Bewusstsein, also dass man nicht komplett alles umkrempeln muss, den gesamten Alltag, sondern wirklich klein starten kann.

Dr. Sabine Werner: Deshalb gibt es auch keine Geheimtipps, die für alle gelten. Jede Strategie ist so individuell wie die Ärztin oder der Arzt selbst. Es muss ja zu ihrem Leben passen und nicht zu meinem. Und deshalb halte ich mich zurück mit Ratschlägen. Es gibt natürlich Strategien, die sich bewährt haben, die auch belegt sind. Also zum Beispiel ein positives Mindset, lösungsfokussiertes Denken, eine gewisse Analyse, Stärke, Pflege sozialer Beziehungen. Das ist alles sogar belegt, dass diese Faktoren resilienzfördernd sind.

Wie schaffe ich es, tatsächlich etwas zu verändern?

Nathalie Haidlauf: Doch oftmals ist es mit dem Wissen ja nicht getan. Es gibt ja ganz viele Dinge, die habe ich schon verstanden und durchdrungen, aber ich setze sie trotzdem nicht um – Stichwort Ernährung, Bewegung usw. Wir wissen ja theoretisch alle, was gesund ist und was nicht. Aber wie schafft man es denn tatsächlich, diese Erkenntnisse in Verhaltensweisen umzusetzen und auch so im Alltag zu leben?

Dr. Sabine Werner: Also das erste ist sich sicher erst einmal das Eingeständnis „Ich will etwas ändern“. Und das zweite ist natürlich auch der Wille, das zu tun. Und das dritte ist sicherlich, relativ genau ein Ziel zu formulieren. Also nicht im Sinne von „Ich möchte gerne mehr Sport machen“ – das ist kein Ziel, das ist ein Wunsch. Sondern wirklich ein Ziel zu formulieren, das ganz spezifisch ist, das für mich attraktiv ist, realistisch ist und sich konkretisieren lässt. Es gibt auch die sogenannte SMART-Formel, um Ziele zu setzen, also spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch und terminiert. Klar, das ist im Business Kontext sehr bekannt. Ich erzähle davon auch häufig im Coaching, wenn es beispielsweise darum geht, dass jemand mehr für sich tun möchte. Ich habe das gerade eben vor unserem Gespräch in einem Coaching mit einer jungen Kollegin besprochen. Auf die Frage „Was könnte der erste Schritt sein?“ hat sie gesagt „Also, wenn ich einmal die Woche – 50 oder vielleicht 40 Minuten – Sport machen könnte, oder auch nur Bewegung – das würde vielleicht auch reichen. Das wäre zumindest der erste Schritt und dann würde es mir schon viel besser gehen“. Und dann haben wir gemeinsam geschaut: An welchem Wochentag soll es stattfinden? Was muss noch organisiert werden? Haben Sie alles, was Sie brauchen? Also, sprich, brauchen Sie ein Fahrrad, Skater, Nordic Walking, Stöcke, Jogging, Schuhe. Und am Ende stand ein ganz konkretes Ziel „Ich gehe ab morgen immer mittwochs für 40 Minuten raus“.

Nathalie Haidlauf: Und so wird aus einem Ziel dann eine konkrete Umsetzung oder ein Plan?

Dr. Sabine Werner: Ja, genau. Und dann darf man sich auch selber belohnen. Das heißt, es ist ganz wichtig, sich dann auch zu überlegen, wie man sich belohnt, wenn man es vier Wochen lang so gemacht hat. Oftmals funktioniert so eine Zielsetzung besser in der Gruppe. Also wenn man seine Ziele outet, einer Kollegin oder einem Kollegen gegenüber oder der Familie, dann verpflichtet das auch noch mal. Oder auch, wenn man es sich selbst aufschreibt und das Ziel wirklich für sich selbst fixiert, dann gibt das auch noch mal einen ganz anderen Impact.

Was bringen Hypnose und Balint-Gruppen?

Nathalie Haidlauf: Sie haben ja gerade auch den Punkt Individualität angesprochen. Wir haben auch einmal bei uns auf coliquio im Forum nachgefragt, welche Strategien zur Stressbewältigung die Ärztinnen und Ärzte denn so haben. Und was häufiger als Antwort zurückkam war der Punkt, dass es vielen hilft, an Balint-Gruppen teilzunehmen oder selbst auch eine Hypnose Ausbildung zu absolvieren. Haben Sie damit auch Erfahrungen oder können Sie das auch empfehlen?

Dr. Sabine Werner: Also ich selbst bin sehr begeistert von Hypnose. Ich habe selbst eine Hypnose-Ausbildung gemacht bei der SMS hier in der Schweiz, also einem offiziellen Verband. Ich glaube das ist ein bisschen eine Frage des persönlichen Geschmacks, ob es einem liegt, denn das kostet natürlich auch wieder Zeit. Für mich war meine Coaching Ausbildung tatsächlich der Einstieg in eine neue Weltsicht. Denn letztendlich ist es so, dass die Art und Weise, wie wir miteinander sprechen, wie wir miteinander kommunizieren, wie wir auch ja mit unseren Mitarbeitenden umgehen, wie wir mit unseren Patienten sprechen, auch unsere Wirklichkeit kreiert. Und unsere Wirklichkeit ist dann entweder problemlastig oder sie ist lösungsfokussiert oder irgendwo dazwischen auf der Skala. Und je mehr ich sozusagen aktiv Einfluss darauf nehme, wie ich mein Leben als Ärztin ausfüllen will, wie ich als Ärztin sein will und mich darüber auch mit anderen auch austausche, desto eher kann ich Einfluss auf meine Weltsicht nehmen. Und die Hypnose-Ausbildung ist sicherlich eine gute Möglichkeit, die jedoch auch sehr zeitintensiv ist. Also ich denke man braucht schon eine gewisse Begeisterung für das Thema Kommunikation, damit man da seriös einsteigen kann.

Eine andere Möglichkeit sind Balint Gruppen, in denen man sich kollegial über schwierige Fälle austauscht – oder Interventionsgruppen. Allerdings habe ich hier auch die Erfahrung gemacht, dass es häufig an der Zeit scheitert. Wenn es in der Klinik oder Praxis länger dauert, kann ich mir keine Zeit dafür nehmen. Und genau aus dem Grund habe ich jetzt vor einiger Zeit gedacht, ich biete auch auf privater Basis so einen Erfahrungsaustausch an. Das nennt sich lösungsfokussierte Online-Ideenwerkstatt für Ärztinnen. Also die Kollegen mögen es mir nachsehen: Es ist wirklich ein Angebot für Frauen, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass Frauen doch noch häufiger das Bedürfnis haben, sich auszutauschen und über die Herausforderungen des Berufsalltag zu sprechen. Das Ganze findet einmal im Monat statt und dauert online eine Stunde. Und das hat ganz guten Zuspruch, weil es ein schnelles, kurzes Format ist und kostenfrei.

Nathalie Haidlauf: Und vermutlich fällt dieses gemeinsame Reflektieren vielen Menschen leichter. Man hat den einen Zeitpunkt, an dem man das eben gemeinsam tut und muss es nicht im stillen Kämmerlein irgendwie selbst organisieren, sondern hat dann eben auch dafür den Raum im Kalender.

Dr. Sabine Werner: Ja, genau. Was ich grundsätzlich empfehlen kann, ist überhaupt den kollegialen Austausch zu pflegen. Ob das jetzt der Kollegenkreis ist, ein Stammtisch oder Qualitätszirkel oder regelmäßige Fortbildungen mit Pausengesprächen – das ist eigentlich die Resilienzstrategie Nummer eins: die Pflege sozialer Beziehungen, privat und beruflich. Ob das dann letztlich in der Balint-Gruppe stattfindet oder in der Fachgesellschaft ist egal. Denn man ist mit seinen Herausforderungen nicht allein und man kann sich auch ein bisschen von anderen abschauen. Wie machen das eigentlich andere Kolleginnen und Kollegen? Es gibt ja so Kollegen, an denen prallt alles ab und die bewältigen den Alltag mit Leichtigkeit – wenn man den Austausch sucht, kann man sich auch an anderen orientieren und sich anschauen, wie andere ihre Herausforderungen lösen.

Nathalie Haidlauf: Und auch da, bei diesem kollegialen Austausch, ist es wahrscheinlich so, dass man am Anfang natürlich erst einmal das Problemhafte austauscht, aber im zweiten Schritt da wieder davon wegkommen muss und sich fragen muss: „Okay, wie löst man das Problem genau“.

Dr. Sabine Werner: Und da haben Sie das Zauberwort ja schon gesagt, nämlich das Wort „Wie“ statt „Warum“. Das ist eben genau eine Intervention, die man machen kann, dass man anfängt, „Wie“-Fragen zu stellen anstelle von „Warum“-Fragen: Wie hätte ich es denn gern? Wie würde ich es mir wünschen? Wie könnte das denn aussehen, damit es so ist, wie ich es mir vorstelle? Wie wäre denn mein optimales Szenario im beruflichen Alltag? Und wenn man sich „Wie“-Fragen stellt, ist es eigentlich fast egal, wie das Problem entstanden ist. Man kommt dadurch auf ganz andere Lösungen. Und das Beste ist, man macht selbst etwas, man nutzt seinen eigenen Handlungsspielraum aus, auch wenn die Rahmenbedingungen schwierig oder suboptimal sind.

Welche Methode hilft in akuten Krisensituationen?

Nathalie Haidlauf: Jetzt haben wir viel darüber gesprochen, wie man diese Problemsituation vermeidet. Aber vielleicht gibt es noch etwas, was Sie den Ärztinnen und Ärzten, die jetzt gerade mithören, noch gerne mitgeben möchten. Eine Methode oder ein Tipp, den man in Krisensituationen parat haben sollte?

Dr. Sabine Werner: Ja, habe ich. Es hängt mit einer ganz kleinen Pause zusammen. Es gibt viele jungen Ärztinnen und Ärzten, die mir im Coaching sagen „Ich habe keine Zeit für eine Pause. Und das wird auch nicht gern gesehen und ich weiß nicht, wo ich hingehen soll.“ Doch ich sage, es gibt immer einen Ort, an dem man in der Regel ungestört ist, und das ist das WC. Das gibt es in jedem Spital und in jeder Praxis. Aber es ist natürlich auch gut, wenn man eine andere Räumlichkeit findet. Und zwar geht die Pause dann so, dass man im Grunde genommen gar nichts weiter macht, als einmal seine Atmung zu beobachten.

Man kann zum Beispiel die eine Hand auf die Brust, die andere auf den Bauch legen, sodass man Kontakt mit sich selbst aufnimmt. Und dann geht es einfach so, dass man vier Sekunden ein und sechs Sekunden ausatmet. Das nennt sich 4-6 Atmung. Wenn man das eine Weile macht, führt das dazu, dass man Atemfrequenz und Herzfrequenz synchronisiert und den Sympathikus aktiviert. Eigentlich können wir unser vegetatives Nervensystem nicht willentlich beeinflussen. Aber die einzige Tür, die wir haben, oder die Pforte zum vegetativen Nervensystem, ist die Atmung. Und nicht jeder hat Lust, irgendwelche speziellen Atemtechniken zu üben oder zu lernen, wie das im Yoga bekannt ist. Aber wenn man einfach vier Sekunden ein, sechs Sekunden ausatmet, und das eine Weile macht, funktioniert das. Das heißt, die Atmung führt zusammen mit dieser Selbstberührung automatisch zu einer Beruhigung. Man kann sich auch einen Pulsoxymeter an den Finger klippen und das selbst ausprobieren. Dann hat man gleichzeitig so eine Art Biofeedback und sieht, dass es funktioniert.

Und das ist wirklich der Schlüssel: Wenn eine akute Überlastung oder eine Krisensituation eintritt, ist man mit dieser Technik in der Lage, runterzufahren und seine Emotionen zu regulieren. Und es gibt sogar noch einen kleineren Schritt. Ein Kollege von mir, der macht das in einer Mini-Variante. Er macht einfach vor jedem neuen Patienten eine kleine Pause und macht ganz bewusst drei Atemzüge – das ist alles.

Nathalie Haidlauf: Ah, das ist interessant, das hat auch ein Arzt im Forum als Tipp gegeben. Er ist wohl auch niedergelassener Arzt und hat immer ein volles Wartezimmer und den Druck, schnell alle zu behandeln. Und er sagt auch, dass er zwischen jedem Termin einmal kurz zum Fenster geht, ins Grüne schaut und sich eine Minute Zeit nimmt nur für diesen Blick, bevor dann der nächste kommt. Also ja, bewusst so eine Pause einzuschieben.

Dr. Sabine Werner: Ja, super. Ich glaube, das ist das Geheimnis, wenn man das einfach ausprobiert und dann rausfindet: „Was passt zu mir, was tut mir gut?“ Und ich bin sicher, dass jeder Arzt, jede Ärztin etwas findet, wenn man sich damit auseinandersetzt und sich fragt: „Was kann ich denn eigentlich selbst tun, damit es mir besser geht?“ Wer anders kümmert sich wahrscheinlich nicht drum, wenn man es nicht selbst macht.

Nathalie Haidlauf: Genau, das muss jeder selbst tun. Ja, vielen Dank. Ich glaube, da waren jetzt super viele Anregungen dabei, die sich auch schnell umsetzen lassen und nicht viel Zeit im Alltag beanspruchen und die ja vielleicht für den einen oder anderen Zuhörenden eine gute Anregung für den Arbeitsalltag sind. Haben Sie noch etwas, was Sie zum Abschluss gerne noch mitgeben möchten? Dann haben Sie jetzt noch mal die Gelegenheit. Ansonsten bedanke ich mich ganz herzlich für die Einblicke und für den Austausch, Frau Dr. Werner.

Dr. Sabine Werner: Höchstens vielleicht noch einen kleinen Input. Das nennt sich „Circle of Influence“ und kommt ursprünglich von Stephen Covey. Das benutze ich auch sehr gerne im Coaching und auch selbst. Also immer, wenn man in einer schwierigen Situation ist, kann man sich bewusst überlegen: „Kann ich die Situation beeinflussen oder ändern – ja oder nein? Wenn ja: kann ich es alleine oder allenfalls mithilfe anderer? Auf diese Weise kann ich in Aktion treten und handeln. Wenn man jedoch zum Schluss kommt „Nein, ich kann die Situation nicht beeinflussen“, dann hilft tatsächlich nur Akzeptanz. Und diese Unterscheidung „Habe ich Handlungsspielraum, ja oder nein?“ hilft häufig auch weiter, um dann die nächsten Schritte zu gehen und ein bisschen klar zu sehen.

Nathalie Haidlauf: Super. Das klingt doch nach einem ganz pragmatischen und wieder umsetzbaren Schlusswort. Vielen Dank.

Dr. Sabine Werner: Ja, ich danke auch. Ich hoffe, dass das eine oder andere nützt – das würde mich sehr freuen.

Nathalie Haidlauf: Definitiv. Vielen Dank.

Und das war's auch schon wieder für diese Woche. Abonnieren Sie uns gerne auf iTunes, Spotify oder dieser, um keine Folge des Podcasts zu verpassen. Dieser Podcast wird produziert von der coliquio Medizinredaktion. Aufgezeichnet wurde das Gespräch am 2. Juni 2022. Redaktion Nathalie Haidlauf und Sebastian Schmidt.

Dr. Sabine Werner

Dr. Sabine Werner ist Ärztin und seit vielen Jahren für das Schweizer Unterstützungsnetzwerk ReMed tätig. ReMed bietet Ärztinnen und Ärzten in kritischen Momenten und Krisensituationen Hilfe. Darüber hinaus ist Dr. Sabine Werner als Coach tätig. Mehr über ihre Arbeit und ihre kostenlose Lösungsfokussierte Online-Ideenwerkstatt für Ärztinnen erfahren Sie hier.

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