
Medikamente mit ungewöhnlichem Ursprung
Viele der heute eingesetzten modernen Medikamente sind gezielt am Computer oder gar mit Hilfe künstlicher Intelligenz entwickelt worden. Nicht wenige haben ihren Ursprung aber ganz woanders – z.B. im Tier- oder Pflanzenreich. So stammen Vorläufer der heute weit verbreiteten GLP-1-Agonisten aus dem Gift der Gila-Krustenechse.1
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Wundermittel Semaglutid dank der Krustenechse
Forschende entdeckten, dass das im Gift enthaltene Hormon Exendin-4 bei der Behandlung des Typ-2-Diabetes eingesetzt werden könnte. Es entspricht chemisch weitgehend dem menschlichen Hormon GLP-1, das nach der Nahrungsaufnahme freigesetzt wird und beim Menschen an der Kontrolle des Blutzuckerspiegels beteiligt ist.
Exendin-4-aus dem Echsengift hat aber den Vorteil, dass es deutlich länger im Körper bleibt und so einen pharmakologischen Effekt entfalten kann. Heute werden daraus entwickelte Substanzen wie Semaglutid erfolgreich bei Typ-2-Diabetes und Adipositas eingesetzt.
Die Gila-Krustenechse ist nicht das einzige Reptil, dessen Gift Ausgangspunkt für die Entwicklung von Medikamenten ist. Das Gift der brasilianischen Grubenotter lieferte mit einem blutdrucksenkenden Peptid die Vorlage für die ACE-Hemmer, die heute die am häufigsten eingesetzten Medikamente bei Hypertonie und Herzinsuffizienz sind. Die erste synthetische Version des Peptids war Captopril, eine Weiterentwicklung waren dann die heute gängigen ACE-Hemmer wie Enalapril oder Ramipril.
Kegelschnecke und karibische Seescheide als Wirkstoffquellen
Gifte von Land- und Meerestieren sind eine reichhalt Quelle für medizinische Wirkstoffe. Kegelschnecken sind z.B. dafür bekannt, verschiedene toxische Peptide zu produzieren, mit denen sie ihre Beute bewegungsunfähig machen. Eine synthetische Version einer dieser Peptide wird in Form von Ziconotid als intrathekales Schmerzmittel eingesetzt.
Auch die karibische Seescheide hat uns mit einem Wirkstoff versorgt: Trabectin zeigte positive Ergebnisse bei der Behandlung von fortgeschrittenen Weichteilsarkomen wie Liposarkom und Leiomyosarkom und wurde 2015 von der FDA zur Behandlung dieser Tumoren nach Versagen der Chemotherapie zugelassen.
Blutegel liefern Vorlage für Antikoagulanzien
Die Vorlage für Antikoagulanzien haben Blutegel geliefert. Bevor sie beginnen beim Menschen Blut zu saugen, injizieren sie Substanzen wie Hirudin um die Blutgerinnung zu stoppen. Die Antikoagulanzien Bivalirudin und Desirudin sind direkt von Hirudin abgeleitet. Bivalirudin wird heute noch bei perkutaner Koronarintervention (PCI), Ballondilatation, Atherektomie und Stentimplantation zur Antikoagulation angewandt, Desirudin zur Prophylaxe tiefer Beinvenenthrombosen bei Hüft- und Kniegelenksersatz.
Warfarin zuerst als Rattengift eingesetzt
Auch auf den Vitamin-K-Antagonisten Warfarin ist man durch einen Zufall gekommen. In den 1920er Jahren starben in den USA und Kanada Rinder an einer mysteriösen Bluterkrankheit. Als Ursache erwies sich der Verzehr von verschimmeltem Steinklee, der den Wirkstoff Dicoumarol enthielt, woraus dann Warfarin entwickelt wurde. Die Substanz wurde zuerst als Rattengift eingesetzt – in den 1950er Jahre wurde aber das Potenzial als therapeutisches Antikoagulanz beim Menschen entdeckt.
Dynamit lindert Brustenge
Aus einem ganz anderen Bereich stammt Nitroglycerin, dessen Vorläufer Glycerol aufgrund seiner explosiven Eigenschaften schon im 19. Jahrhundert z.B. beim Bau der Eisenbahn eingesetzt wurde. Einige mittelalte Männer, die mit dem Sprengstoff arbeiteten, berichteten z.T. von einer Besserung ihrer Brustschmerzen nach dem Umgang mit Dynamit. Später wurde dann daraus Nitroglycerin entwickelt, das auch heute noch aufgrund seiner gefäßerweiternden Eigenschaften bei Angina pectoris eingesetzt wird.
Senfgas als Vorlage für Chemotherapeutika
Auch Chemotherapeutika sind einem ganz anderen Vorbild nachempfunden. Forscher beobachteten, dass das im 1. Weltkrieg als Waffe eingesetzte Senfgas gezielt Lymphgewebe zerstört, was zu der Überlegung führte, es zur Zerstörung von Krebszellen in Lymphknoten einzusetzen. Erst 1940 wurden Abkömmlinge von Senfgas zur Behandlung von Blutkrebs eingesetzt – und auch heute noch lassen sich einige Chemotherapeutika auf das Gas zurückführen.