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Praxis-Wissen kompakt

22. Feb. 2022

Sex im hohen Alter: von wegen „rien ne vas plus“

In unseren vom Anti-Aging-Wahn befallenen Gesellschaften existiert teilweise der Irrglaube, Sex sei etwas, was nur Menschen haben und erfreut, die noch keine Prothesen und Zahnimplantate in sich tragen oder Gehhilfen benötigen.

Lesedauer: ca. 5 Minuten

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Viele falsche Annahmen

Ab einem gewissen Alter, so die irrige Annahme, gelte nun mal „rien ne vas plus!“ Doch dem ist nicht so, wie ausser der Lebenserfahrung auch eine 2007 publizierte US-Studie zeigt. In dieser Studie befragte Stacy Tessler Lindau, Professorin für Geburtshilfe, Gynäkologie und Geriatrie an der Universität von Chicago, mehr als 3000 ältere Erwachsene zum Thema Sex.

Ergebnis: 53 Prozent der Teilnehmer im Alter von 65 bis 74 Jahren hatten im Jahr zuvor – eigenen Angaben zufolge – mindestens einmal Sex. In der Altersgruppe der 75- bis 85-Jährigen waren es 26 Prozent. Von den 57- bis 64-Jährigen gaben 73 Prozent an, im vergangenen mindestens einmal Sex gehabt zu haben. Die Frequenz nimmt der Studie zufolge zwar ab, aber Sex spielt selbst im Leben alter Menschen noch immer eine Rolle.

Wunsch nach Intimität bleibt bestehen

Sexualität sei ein wichtiger Baustein des „Successful Aging“, der bisher zu kurz komme, kritisierte 2019 die Geriaterin Dr. Annette Ciurea (Stadtspital Waid in Zürich) in ihrer Keynote-Lecture „Sexualität im Alter: Rien ne vas plus!?“ beim Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie. In der Berliner Altersstudie BASE habe man, so Ciurea, zwar festgestellt, dass die sexuelle Aktivität im Alter zurückgehe, der Wunsch nach Intimität aber durchaus bestehen bleibe. Dabei gehe es nicht nur um den Geschlechtsakt selbst, sondern vor allem um das Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Berührung.

David und Anne seien jetzt in ihren 80ern, und sie hätten ihr kürzlich erzählt, dass der Sex in diesem Lebensabschnitt so gut sei wie nie zuvor, berichtet die US-Autorin Maggie Jones (University of Pittsburgh) im „New York Times Magazine“. Der Sex sei, so habe das Paar ihr weiter erzählt, entspannter als in ihren 20er und 30er Jahren, als sie so viel Verantwortung und wenig Zeit gehabt hätten. „Es habe aber Mühe gekostet, das zu erreichen“. 

Was im Weg steht: Krankheit, Moral, Stigmatisierung

Grund für die Mühen sind die vielen Hemmnisse und auch Hemmungen, die alte Menschen überwinden müssen, wollen sie Zärtlichkeiten austauschen und Sex haben. Dazu zählen insbesondere Erkrankungen und altersbedingte organische Veränderungen, wie ein Team um Professorin Dr. Birgitta Sträter von der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (Abteilung Köln) berichten.

Hierzu gehörten beim Mann etwa Strukturveränderungen des Penis mit Reduktion der elastischen Fasern, des Kollagens und der glatten Muskulatur. Zudem nehme die Sensibilität des Penis ab, was bei manchen ansonsten somatisch gesunden Männern Ursache einer erektilen Dysfunktion sein könne. Weitere Gründe seien Prostatakarzinome und deren operative Therapie.

Bei Frauen ist laut Sträter und ihren Mitautoren „die Menopause eine Lebensphase, die nachhaltige körperliche Veränderungen nach sich zieht, die zu gestörter sexueller Gesundheit führen können“. Führend hierbei seien die Folgen reduzierter Östrogenspiegel, etwa vaginale Trockenheit. Weitere mögliche Ursachen seien Beckenbodenschwäche, Urininkontinenz, Zystozelen, Rektozelen, Enterozelen und Vaginal- bzw. Uterusprolapse. Ausserdem könnten Hysterektomien und Ovarialkarzinome zu sexueller Dysfunktion führen.

Bei beiden Geschlechtern können systemische Erkrankungen das Ausleben der Sexualität beeinträchtigen, so etwa Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Bluthochdruck, Herzerkrankungen, pulmonale Erkrankungen, chronische Schmerzen und neurologische Erkrankungen wie Epilepsie, Parkinson, Multiple Sklerose und auch Demenz. Zudem könnten Antidepressiva und Neuroleptika die Libido einschränken. 

Im Weg stehen alten Menschen zudem unterschiedliche Arten der Stigmatisierung. So trauen sich laut Sträter und ihren Mitautoren alte Menschen unter Umständen deswegen nicht, Sexualität zu leben und zu thematisieren, weil oft suggeriert werde, dass Sexualität im Alter keine Rolle mehr spiele. Relevante Einflussfaktoren seien unter anderen Sozialstruktur und Wertesystem (moralische Normen) des jeweiligen Kulturkreises. 

Zu einer negativen Einstellung gegenüber Sex alter Menschen trage zudem „eine mediale Vermittlung bei, die suggeriert, dass ältere Leute asexuell und gebrechlich seien“. Oft würden ältere Menschen auf kognitive Störungen reduziert; vor allem Demenz-Erkrankungen spielten hierbei eine große Rolle. Sexuelle Übergriffe aufgrund enthemmten Verhaltens führten sogar zu der pauschalen Ansicht, „dass ältere Menschen nur krankheits-bedingt sexuelle Bedürfnisse ausleben“. 

Eine große Hürde ist ausserdem die so genannte institutionelle Stigmatisierung. Laut Maggie Jones sprechen manche Paartherapeuten und auch viele Hausärzte bei ihren alten Patienten das Thema Sex nicht an. Das betonen auch Sträter und ihre Kollegen. Zudem traue sich Untersuchungen zufolge nur ein geringer Prozentsatz der Patienten, das Thema selbst anzusprechen.

So habe zum Beispiel eine Studie ergeben, „dass lediglich 5 Prozent der untersuchten älteren Frauen selbstständig auf ihre sexuelle Gesundheit zu sprechen kommen, jedoch 20 Prozent Probleme berichten, wenn der Hausarzt explizit danach fragt“. Eine weitere Studie habe ergeben, dass sich 75 Prozent der weiblichen Probanden ein entlastendes Gespräch und ggf. eine Therapie  zu Problemen der sexuellen Gesundheit wünschten, jedoch nur 55 Prozent ein solches erhielten. 

Pflegeheime: Reduktion auf Körperpflege und Essenseingabe

Ein besonders großes Problem tritt dann ein, wenn alte Menschen in einem Pflegeheim leben. Denn während die Sexualität in den eigenen vier Wänden gelebt werden kann, bestehen in Pflegeeinrichtungen erhebliche Einschränkungen. Der körperliche Kontakt von vielen Patienten in Pflegeheimen und geriatrischen Abteilungen beschränke sich leider meist auf Körperpflege und Essenseingabe, kritisierte Ciurea.

Bewohnern von Pflegeheimen werde viel Privatsphäre genommen und damit die Möglichkeit sich sexuell auszuleben, erklären auch Sträter und ihre Kollegen. Selbst gemeinsam in ein Heim ziehende Paare würden oft räumlich getrennt, ohne dass das Thema des Verlustes von Körperlichkeit näher betrachtet werde. Darüber hinaus sei das Personal in solchen Einrichtungen weiterhin unzureichend über sexuelle Gesundheit älterer Menschen informiert; entsprechende Weiterbildungsmöglichkeiten seien selten. 

Erschwert werde alten Menschen in Pflegeheimen ein erfülltes Intimleben insbesondere durch Demenz-Erkrankungen. Demenz-Kranke sind anfälliger für sexuelle Übergriffe und verhalten sich manchmal sexuell unangemessen, etwa Patienten mit frontotemporaler Demenz. „Nur wenige Seniorenwohngemeinschaften bieten viel – wenn überhaupt – sexuelle Informationen für die Bewohner oder Schulungen für das Personal an“, schreibt Maggie Jones.

Ein Sexualpädagoge habe ihr zum Beispiel  von einer älteren Frau erzählt, die in einem Seniorenzentrum nach Informationen über Sex und Altern gesucht habe. Sie habe auf dem Computer nicht darauf zugreifen können, weil das Wort „Sex” blockiert gewesen sei. Vielleicht um zu verhindern, dass die alten Herrschaften pornographische Webseiten besuchen. Möglicherweise kommt ja doch zuerst die Moral – und dann, vielleicht, erst alles andere, was für ein erfülltes und gesundes Leben notwendig ist.

Dieser Beitrag ist im Original auf Univadis.de erschienen.

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