Erblicher Darmkrebs: Erkennung und Vorsorge
Bei welchen Patientinnen und Patienten sind genetische Untersuchungen sinnvoll? Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es und wann wird eine mögliche Impfung kommen? Antworten auf diese und weitere Fragen rund um erblich bedingte Darmkrebserkrankungen gab Prof. Dr. med. Dipl.-chem. Elke Holinski-Feder auf dem Fachsymposium „Darmkrebsvorsorge 3.0“.
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Dieser Beitrag basiert auf dem Vortrag von Prof. Dr. med. Dipl.-chem. Elke Holinski-Feder (München) „Erblicher Darmkrebs, Erkennung, Vorsorge, Entwicklung“. Redaktion: Marina Urbanietz
Hereditäre vs. familiäre Formen
Bei erblichen Darmkrebserkrankungen wird unterschieden zwischen tatsächlich hereditären Formen, die durch monogenetische Veränderungen verursacht werden, und solchen, die familiär sind. Letztere können durch exogene Faktoren, wie Lebensweise oder Ernährung, beeinflusst werden, während hereditäre Formen auf genetische Veränderungen zurückzuführen und nicht von äußeren Faktoren beeinflussbar sind.
Bei fast allen Tumorentitäten liegt der Anteil der tatsächlich hereditären Formen bei ca. 5–10 %, manchmal bei 20 %. Bei sehr seltenen Tumoren, wie dem Paragangliom oder dem Retinoblastom, ist der Anteil deutlich höher.
Merkmale hereditärer Formen:
- Tumorerkrankungen, die vor dem 50. Lebensjahr auftreten
- Patientinnen und Patienten mit 2 und mehr HNPCC (hereditäres kolorektales Karzinom ohne Polyposis) und/oder positiver Familienanamnese
- Patientinnen und Patienten mit sekundärer Neoplasie, die in einem hohen Prozentsatz hereditär verursacht ist
- Bei Kolonkarzinomen liegt in 1 von 20 Fällen eine monogene hereditäre Form vor.
Lynch-Syndrom – häufig, komplex, unterdiagnostiziert
Das Lynch-Syndrom ist eines der häufigsten erblichen Tumorsyndrome mit ca. 300.000 Anlageträgern in Deutschland. Die Anlageträgerfrequenz ist somit hoch und liegt bei 1:280. Prof. Holinski-Feder betont in ihrem Vortrag: „Aktuell sind wir weit davon entfernt, alle Patientinnen und Patienten mit Lynch-Syndrom zu erfassen und liegen schätzungsweise bei 10 %“.
Der Nachweis erfolgt mittels Immunhistochemie des Tumors. Am besten geeignet hierfür sind Kolon- und Endometriumkarzinome. Für andere Tumoren gibt es bisher keine validen Daten hinsichtlich der Sensitivität zur Erfassung des Lynch-Syndroms.
Die Durchführung einer Immunhistochemie bei kolorektalen Karzinomen sei also wünschenswert und werde heute teilweise durchgeführt – meist aufgrund der Therapieindikation, erklärt Prof. Holinski-Feder weiter. Eine histochemische Untersuchung aller Endometriumkarzinome, die vor dem 60. Lebensjahr aufgetreten sind, habe bereits Einzug in die Leitlinien gefunden.
Das Lynch-Syndrom ist komplex: So sind bei Männern in jüngeren Jahren Kolonkarzinome vorherrschend. Mit zunehmendem Alter steigt dann die Anzahl der assoziierten Tumorerkrankungen. Das Lynch-Syndrom ist also nicht nur über das Kolonkarzinom definiert, sondern umfasst auch eine Reihe von assoziierten Tumorerkrankungen (Abb. 1).
Diese altersbedingte Assoziation ist eines der Merkmale des Lynch-Syndroms. Gleichzeitig seien auch im höheren Alter weiterhin viele Kolonkarzinome vorhanden, erläutert Prof. Holinski-Feder.
Bei Frauen verhält es sich ähnlich, hinzu kommt ein hohes Risiko für das Endometriumkarzinom. Dies führt zu einem kumulativ höheren Tumorrisiko als bei Männern. Auch hier zeigt sich eine steigende Anzahl assoziierter Tumorerkrankungen mit dem fortschreitenden Lebensalter. Jedoch, im Gegensatz zu Männern, scheint das PMS2-Gen bei Frauen in jüngeren Jahren vorzugsweise Gehirntumore zu verursachen. Bei Männern verursacht es im höheren Alter (Abb. 1 links unten) gehäuft Kolonkarzinome und scheint ansonsten kein Risiko für andere Tumorentitäten mit sich zu bringen. Diese Besonderheit gilt es aus Sicht von Prof. Holinski-Feder bei der Früherkennung zu berücksichtigen.
Zudem zeigt das Gen MSH6 eine Besonderheit: Es führt bei Frauen vor allem zu Endometriumkarzinomen. Insgesamt bedeuten diese Daten, dass die Tumorrisiken in Abhängigkeit von den betroffenen Genen unterschiedlich sind. Das könnte dazu führen, dass langfristig unterschiedliche Vorsorgeempfehlungen für einzelne Gene formuliert werden.
Gute Überlebenschancen
Die Überlebenswahrscheinlichkeiten bei Patientinnen und Patienten mit Lynch-Syndrom sind relativ gut – vor allem im Vergleich zu sporadischen Tumoren oder anderen erblichen Tumorsyndromen. So sieht man am Beispiel des Ovarialkarzinoms, das bei Patientinnen mit hohem Sterberisiko verbunden wird, dass diese Annahme zumindest beim Lynch-Syndrom nicht zutrifft (Abb. 2).
Aus diesem Grund ist hier keine Indikation für eine prophylaktische chirurgische Maßnahme in jüngeren Jahren gegeben. Dies muss strikt von den Ovarialkarzinomen abgegrenzt werden, die durch Brustkrebsgene verursacht werden und sich völlig anders verhalten.
Assoziierte Tumorerkrankungen als häufigste Todesursache
Die häufigste Todesursache bei Patientinnen und Patienten mit Kolonkarzinom ist nicht primär das Karzinom des Kolons, sondern die assoziierten Tumorerkrankungen (Abb. 3), die oft übersehen werden. Laut Prof. Holinski-Feder gilt es, den assoziierten Tumoren eine wesentlich höhere Bedeutung beizumessen, vor allem in der Früherkennung und der korrekten Zuordnung zum Tumorsyndrom. Erst dann könnten Patientinnen und Patienten die richtige Therapie erhalten.
Vorsorgeintervalle: Viel bringt nicht unbedingt viel
Eine internationale Analyse zeigt, dass das Motto „Viel bringt viel“ bei Patientinnen und Patienten mit Lynch-Syndrom nicht zutrifft (Engel et al., Gastroenerology 2018). Kurze Endoskopie-Intervalle (jährlich) scheinen kein besseres Langzeitüberleben zu bewirken. Auch die Tumorstadien sowie das Risiko, an einem Kolonkarzinom zu erkranken, sind gleich. Eine – zunächst einmal überraschende – Erkenntnis. Vor allem, weil die Daten auch zeigen: Je öfter man endoskopiert, umso häufiger findet man Karzinome.
Woran kann dies liegen?
Die Anlageträger für das Lynch-Syndrom haben eine Keimbahnvariante in einem der Mismatch-Repair-Gene und irgendwann wird die zweite Genkopie inaktiv. Dies führt dazu, dass durch den Mismatch, der nicht mehr korrigiert werden kann, sogenannte Neopeptide in der Zelle synthetisiert werden. Da der Körper diese nicht kennt, fängt er an, Antikörper zu produzieren und sich so dagegen zu immunisieren. Aus diesem Grund haben diese Tumoren eine relativ gute Prognose. Da sie hoch immunogen sind, findet auch keine Metastasierung statt.
Das heißt, bei den kurzfristigen Vorsorgeintervallen werden möglicherweise Tumoren detektiert, die sich nie zu klinisch fortgeschrittenen Tumorerkrankungen ausgewachsen hätten. Dies sei allerdings nur eine Hypothese, die in weiteren Untersuchungen erst bestätigt werden müsse, betont Prof. Holinski-Feder.
Welche anderen Präventionsmöglichkeiten gibt es?
In einer großangelegten Lancet-Studie beobachtete ein Forschungsteam einen deutlichen Rückgang der Inzidenzen von Kolonkarzinomen, wenn Patientinnen und Patienten 2 Jahre lang täglich 600 mg Aspirin einnahmen. Auf die anderen Tumorentitäten des Lynch-Syndroms schien sich diese Intervention allerdings weniger deutlich auszuwirken (Burn et al., Lancet 2020).
Aktuell läuft eine „Dosisfindungsstudie“, in deren Rahmen Forschende untersuchen, ob auch niedrigere Aspirin-Dosen die erhoffte Wirkung erzielen. Erste Daten stimmen positiv – eine generelle Empfehlung ist daraus allerdings noch nicht entstanden. Laut Prof. Holinski-Feder könnte man jedoch – zumindest bei jüngeren Patientinnen und Patienten mit Lynch-Syndrom – über eine medikamentöse Prävention nachdenken.
Für das Endometriumkarzinom zeigen bisherige Untersuchungen durch hormonelle Kontrazeptiva eine reduzierte Zellteilung und somit ein geringeres Krebsrisiko. Aber auch hier gibt es keine generelle Empfehlung für Patientinnen mit Lynch-Syndrom.
Woran wird gerade gearbeitet?
Aktuell werden die S3-Leitlinien überarbeitet. Das Konsortium wird vorschlagen, Patientinnen und Patienten mit Lynch-Syndrom alle 1 bis 2 Jahre einer Endoskopie zu unterziehen.
Prof. Holinski-Feder: „Zusätzlich wird ab dem 30. Lebensjahr eine Gastroskopie empfohlen, weil wir gesehen haben, dass ein erheblicher Prozentsatz (6-7 %) der Magenkarzinome vor dem 35. Lebensjahr auftritt“.
Bei der gynäkologischen Vorsorge zeigte sich, dass die bisher empfohlenen Maßnahmen (Pipellen, Biopsie, Ultraschall, etc.) keinen großen Nutzen haben. Sie werden daher in den Leitlinien nicht mehr empfohlen, sind aber weiterhin optional möglich. Prof. Holinski-Feder: „Da das Endometriumkarzinom in den meisten Fällen nach der Phase der Familienplanung auftritt, empfehlen wir heute ein prophylaktisches chirurgisches Vorgehen“.
Was ist die Zukunft?
Bioinformatische Auswertungen ermöglichen eine ziemlich genaue Vorhersage darüber, welche Tumoren welche Neopeptide produzieren werden. Dies könnte für die Herstellung eines Vakzins verwendet werden, sodass Patientinnen und Patienten gegen ihre eigenen potenziellen Tumorerkrankungen geimpft werden können. Für Menschen ist das noch nicht spruchreif, in Mausexperimenten scheint es hingegen bereits zu funktionieren (Gebert et al. Gastroenterology 2021).
Alle Vorträge als Videos-on-Demand
Das kostenfreie Live-Online-Fachsymposium „Darmkrebsvorsorge 3.0“ fand am 1. März 2023 statt. Die Veranstaltung wurde organisiert durch den Verein Netzwerk gegen Darmkrebs e.V. in Kooperation mit der Felix Burda Stiftung und den beiden großen Münchener Uniklinika rechts der Isar der TUM und dem LMU Klinikum München. Die Aufzeichnung aller Vorträge finden Sie hier >>