Die Entdecker des Aspirins
Weltweit werden jährlich 60 Milliarden Tabletten Acetylsalicylsäure (Aspirin) eingenommen, es ist das wohl am häufigsten Schmerzmittel aller Zeiten. Aber auch bei anderen Erkrankungen wird das Medikament eingesetzt. Wie ist es dazu gekommen?1
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Autor: Christoph Renninger
Weiden: Antiker Einsatz gerät in Vergessenheit
Bereits Hippokrates (440-377 v. Chr.) verordnete die Rinde und Blätter der Weide (Salix), welche reich an Salicylsäure sind, um Fieber und Schmerzen zu lindern. Dies wird auch von Pedianos Dioskurides (ca. 40-90 n. Chr.), Plinius dem Älteren (23/24-79 n. Chr.) und Galen (129-199 n. Chr.) so beschrieben. Danach geriet der medizinische Gebrauch für Jahrhunderte in Vergessenheit.


Erst der englische Pfarrer Edward Stone (1702-1768) entdeckte die Wirkung wieder. Nach seinem Studium in Oxford war er in verschiedenen Gemeinden tätig. Im Jahr 1763 beschrieb er in einem Brief an die Royal Society die Verwendung getrockneter Silber-Weidenrinde (Salix alba) gegen Fieber und Schmerzen.2
Diese bahnbrechende Veröffentlichung sollte den Weg bereiten für die Entdeckung der chemischen Struktur und Wirkung von Aspirin, ebenso weiterer nichtsteroidaler Antirheumatika.
Ein versehentlicher Selbstversuch
Stone beschrieb, dass er unter wiederkehrenden Schmerzen litt und aus Versehen Weidenrinde gekostet habe, dabei stellte er den äußerst bitteren Geschmack fest. Er ging davon aus, dass Form, Farbe und andere Eigenschaften einer Heilpflanze auf ihre mögliche Verwendung hinweisen. Die leberförmigen Blätter des Leberblümchens (Hepatica acutiloba) helfen demnach etwa bei Lebererkrankungen.
Weiter hielt Stone fest, dass die Lösung nicht weit von der Ursache liege und kam zu dem Schluss, dass Weiden, die vor allem in feuchter oder nasser Erde gedeihen möglicherweise gegen Schmerzen helfen, die in diesen Gegenden auftreten. Er sammelte ein Pfund Weidenrinde und trocknete es drei Monate in einem Bäckerofen. Anschließend pulverisierte er die getrocknete Rinde zu einem feinen Pulver.
Er behandelte sich zunächst selbst damit und zu seiner Freude verschwanden die Schmerzen bald. In den folgenden fünf Jahren testete er das Pulver an etwa 50 Personen, die alle davon profitierten. Später fügte er noch peruanische Chinarinde (Cinchona), auch Jesuitenrinde genannt, hinzu. Diese enthält Chinin. Mutmaßlich litten viele der Behandelten an Malaria. Deren Schmerzen wurden durch die Behandlung vollständig ausgemerzt.
Der Wirkmechanismus blieb lange unbekannt. Erst John Vane und Priscilla Piper zeigten zwischen 1969 und 1971, dass Aspirin und verwandte Medikamente die Cyclooxygenase (COX) hemmen, wodurch die Bildung von pro-inflammatorischen Prostaglandinen unterdrückt wird.
Der Herstellung im Bayer-Labor
Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass der Chemiker Felix Hoffmann (1868-1946) beim Konzern Bayer Aspirin entwickelte, um seinem an Rheuma leidenden Vater zu helfen. Diese Annahme beruht auf einer anekdotischen Fußnote in einer 1834 in Deutschland erschienenen Enzyklopädie. Im Jahr 1895 gab der Leiter der chemischen Forschung bei Bayer, Arthur Eichengrün (1867-1949), Hoffmann demnach den Auftrag eine „bessere“ Salicylsäure zu entwickeln.
Hoffmann untersuchte dabei verschiedene Derivate der Salicylsäure, nicht nur ihren Acetylester. Acetylsalicylsäure (ASS) hatte dabei weniger Nebenwirkung als andere Salicylate. Die Entwicklung wurde jedoch, auf Bestreben von Hoffmanns Kollegen Heinrich Dreser (1860-1924) eingestellt. Dreser nämlich benötigte die Forschungskapazitäten für das neue „Wundermedikament“ von Bayer – Heroin..
Eichengrün weigerte sich jedoch die Arbeit an Acetylsalicylsäure aufzugeben und setzte sie fort. Unter seiner Anleitung synthetisierte Hoffmann 1897 reine Acetylsalicylsäure, welche Bayer 1899 unter dem Namen Aspirin patentierte. Der Markenname bezieht sich auf die Acetylgruppe („A“), die Spirsäure („spir“), welche aus dem Echten Mädesüß (damals Spiraea ulmaira, heute Filipendula ulmaira) stammt und chemisch identisch mit der Salicylsäure ist und dem damals üblichen Suffix („in“) für Chemikalien.

Wurde der wahre Entdecker verheimlicht?
Eichengrün testete Aspirin an sich selbst und stellte keine Nebenwirkungen fest. Er gab das Medikament weiter an Dr. Felix Goldmann, Bayers Vertreter in Berlin, der es an mehrere führende Kliniken zur Untersuchung weiterleitete. Die Rückmeldungen waren vielversprechend. Ein Zahnarzt setzte ASS bei Fieber und starken Zahnschmerzen ein, die dadurch stark gelindert wurden. Nach der Bestätigung durch weitere Patienten berichtete Goldmann an die Geschäftsführung von Bayer.
Eichengrün wurde später der erste Leiter der pharmakologischen Forschung bei Bayer. Er entwickelte den Silber-Protein-Komplex Protargol, welche bis in die 1940er die erste Wahl zur Behandlung der Gonorrhoe blieb. Im Jahr 1908 verließ er den Bayer-Konzern und gründete sein eigenes Unternehmen. Dort stellte er Materialien auf Basis von Celluloseacetat her, darunter ein Mittel zur Fotoentwicklung und Kunststoffe für Pilotenbrillen und Gasmasken.
Im Jahr 1933 zwingen die Nationalsozialisten den Juden Eichengrün sein eigenes Unternehmen zu verlassen. Im Konzentrationslager Theresienstadt eingesperrt schrieb Eichengrün bereits 1944, dass er versucht habe ein Salicylat-Analgetikum zu entwickeln, dass nicht zu den Magen-Darm-Beschwerden führe wie Natriumsalicylsäure.
Offiziell wurde die Entdeckung von Aspirin indes Hoffmann zugeschrieben. Aus offensichtlichen Gründen konnte Eichengrün während der Nazi-Herrschaft dagegen nicht vorgehen. Nach dem 2.Weltkrieg schreibt Eichengrün, dass Hoffmann nur dank seiner Anleitung ASS hatte herstellen können, ohne zu verstehen, welch klinisches Potenzial diese in sich trug.3 Dass Eichengrün die Forschung leitete, wird auch im Briefwechsel mit Carl Duisberg, Geschäftsführer von Bayer und IG Farben, deutlich. Allerdings wird er in historischen Schriften von Bayer nicht erwähnt.
ASS: Vielseitig im Einsatz
Bei der Entdeckung von Aspirin waren die Beobachtungen von Edward Stone im 18. Jahrhundert von Bedeutung. Auch Hoffmanns Rolle bei der Synthese von ASS war zweifellos wichtig. Allerdings war es Eichengrün, der die Forschung anregte und leitete und vor allem auch den klinischen Einsatz initiierte.
Lesen Sie mehr über den Einsatz von Aspirin, seine vielseitigen Effekte und die Kombinationsmöglichkeiten mit anderen Medikamenten im Beitrag „125 Jahre Aspirin: Die Geschichte der Wunderpille“.