
4 Medizin-Irrtümer, die sich hartnäckig halten
Während wissenschaftliche Ergebnisse häufig kritisch hinterfragt werden, halten sich viele seit Jahren bestehende Behauptungen aus der Medizin hartnäckig – obwohl sie längst widerlegt sind. Auf der diesjährigen Jahrestagung des American College of Physicians klärte ein Arzt über vier Mythen auf, die es aus seiner Sicht am dringendsten auszuräumen gilt.
Lesedauer: ca. 4 Minuten

Autor: Thomas R. Collins. Redaktion: Dr. Nina Mörsch
Bestimmte medizinische Mythen würden jungen Medizinerinnen und Medizinern bereits früh in ihrer Karriere eingeschärft und seien deshalb nur schwer zu überwinden, sagt Dr. Douglas Paauw, Professor für Medizin an der University of Washington in Seattle.
„Ich glaube, dass sich solche Mythen hartnäckig halten, weil Mediziner in der Ausbildung Dinge auf eine bestimmte Art und Weise beigebracht bekommen, eine 'Wahrheit' oder ein 'So wird es gemacht', und dann nicht mehr darüber nachdenken, ob es wirklich stimmt ".
Zwar tauchten Studien auf, die die konventionelle Weisheit in Frage stellten, aber solange diese Studien nicht der Öffentlichkeit bekannt gemacht würden, würden sie auch nicht wahrgenommen, so der Arzt.
In seinem Vortrag erörterte Paauw 4 medizinische Mythen, an die viele Ärztinnen und Ärzte noch glauben und die seiner Meinung nach am dringendsten ausgeräumt werden müssen.
1. Schalentierallergie und Radiokontrast
Menschen mit einer Schalentierallergie reagieren angeblich allergisch, wenn ein Kontrastmittel für eine Untersuchung verwendet wird. Dieser Irrglaube sei entstanden, weil Fisch und Schalentiere Jod enthalten und allergische Reaktionen auf Meeresfrüchte recht häufig sind – und auch Kontrastmittel enthalten Jod, erklärt Paauw.
Dieser Glaube sei weit verbreitet, wie eine Umfrage unter US-Ärztinnen und Ärzten bereits vor einiger Zeit offenbarte: Danach gaben 65 % der Radiologinnen und Radiologen und 88,9 % der interventionellen Kardiologinnen und Kardiologen an, vor der Gabe von Kontrastmitteln nach Allergien gegen Meeresfrüchte oder Schalentiere zu fragen.2 Und mehr als ein Drittel der Ärztinnen und Ärzte aus der Radiologie und 50 % aus der Kardiologie gaben an, dass sie bei Personen mit einer Meeresfrüchte-Allergie in der Anamnese keine Radiokontrastmittel verabreichen oder eine Prämedikation empfehlen würden.
Diese Annahme sei jedoch nicht sinnvoll, so Pauuw, da Jod in vielen anderen Lebensmitteln enthalten ist, darunter Milch und Brot, und Allergien gegen Schalentiere auf Parvalbumin-Protein und Tropomyosine zurückzuführen sind und nicht auf das Jod.3
2. Dogma der Koloskopie
Lange Zeit hielten Ärztinnen und Ärzte daran fest, dass Menschen vor einer Darmspiegelung 1–2 Tage lang eine klare, flüssige Diät einhalten und eine darmvorbereitende Flüssigkeit trinken müssen.
Heute wissen wir, dass dies nicht notwendig ist, sagte Pauuw. So stellten Forschende in einer Studie aus dem Jahr 2020 fest, dass eine rückstandsarme Diät, die Lebensmittel wie Fleisch, Eier, Milchprodukte und Brot zulässt, in Bezug auf die Darmvorbereitung und die Erkennung von Polypen während der Untersuchung mit einer klaren Flüssigkeitsdiät vergleichbar ist.4
Die Patientinnen und Patienten, die die reststoffarme Diät einhielten, litten weniger unter Übelkeit und Erbrechen und hatten weniger Hunger. Auch erklärte sich diese Gruppe eher bereit, eine erneute Koloskopie durchführen zu lassen. „Lassen Sie sie essen", lautete der Appell Paauws in seinem Vortrag.
3. Metronidazol und Alkohol
Es herrscht die Meinung vor, dass Patientinnen und Patienten keinen Alkohol trinken sollten, wenn sie Metronidazol einnehmen, weil sie Übelkeit, Erbrechen, Hautrötungen und andere Symptome befürchten – auch bekannt als Disulfiram-ähnliche Reaktion, erklärte Paauw.
Zwar gäbe es Fallberichte, diese würden allerdings so interpretiert, als sei eine Metronidazol-Ethanol-Reaktion eine etablierte Tatsache, ohne dass die Autorinnen und Autoren Beweise lieferten, um dies zu rechtfertigen, so der Arzt.
Versuche an Ratten hätten jedoch gezeigt, dass Metronidazol die Acetaldehydkonzentration, den Auslöser der Symptome, im Dickdarm erhöhen kann, nicht jedoch im Blut. Und in einer kleinen placebokontrollierten, randomisierten Studie erhielten 6 Personen Metronidazol und Ethanol, und nach regelmäßigen Blutuntersuchungen wurde kein Unterschied bei den Acetaldehyd-Blutspiegeln, den Vitalzeichen oder den Symptomen festgestellt.5
Auch die Centers for Disease Control and Prevention (Zentren für Krankheitskontrolle und -prävention) haben erklärt, dass ein Verzicht auf Alkohol während der Einnahme von Metronidazol nicht notwendig ist, betonte Paauw.
4. Sinus-Kopfschmerzen
Entgegen der landläufigen Meinung handelt es sich bei Kopfschmerzen, die für „Sinuskopfschmerzen" gehalten werden, in der Regel um Migränekopfschmerzen, so Paauw.
In einer Studie untersuchten Schreiber et al. 2.991 Patientinnen und Patienten mit mehrfachen Kopfschmerzattacken innerhalb der letzten 6 Monate.6 Die Mehrheit (88 %) dieser Gruppe mit einer Vorgeschichte von selbst beschriebenen oder vom Arzt oder der Ärztin diagnostizierten „Sinus"-Kopfschmerzen erfüllten die Kriterien der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft für Migräne.
Paauw hofft, dass Klinikerinnen und Kliniker bei ihren Entscheidungen über die Behandlung regelmäßig die Evidenzlage überprüfen und sich nicht auf ein paar Dogmen verlassen.
Zahlreiche Leserkommentare
Die über 140 Kommentare als Reaktion auf diesen Medscape-Artikel unterstreichen die Relevanz dieser Thematik. So haben viele Ärztinnen und Ärzte von weiteren Mythen aus der Medizin erzählt, mit denen sie sich bereits konfrontiert sahen: Ein Leser erzählte etwa von dem Irrglaube, dass Menschen mit einer Divertikulitis in der Vergangenheit keine Samen oder Popcorn essen sollten. „Wenn ich versuche, die Patienten darauf hinzuweisen, dass dieser Mythos entkräftet ist, sagen sie mir, dass sie diesen Rat von einem anderen Arzt erhalten haben. Ich hatte sogar einmal einen älteren Patienten, dessen Frau für ihn die Kerne von allem, auch von Erdbeeren, entfernte."
Andere Leserinnen und Leser sind hingegen mit manchen Aussagen Dr. Pauwws nicht ganz einverstanden. So entgegnete eine Ärztin, dass Menschen mit schweren oder mehrfachen Allergien eher dazu neigen, auch auf Jodkontrast allergisch zu sein. Dies hätte nichts mit dem Jodgehalt von Meeresfrüchten zu tun (dies sei ein Trugschluss), sondern nur mit der Tatsache, dass eine Allergie vorliege. Ein anderer Arzt ergänzt: „Bei Menschen mit einer signifikanten Allergieanamnese ist die Wahrscheinlichkeit einer Anaphylaxie gegenüber einem anderen Allergen viel größer als bei Menschen ohne Allergieanamnese. Ich sehe wirklich keinen Schaden darin, eine Anamnese von Meeresfrüchteallergien zu erheben und damit vorsichtig zu sein, was wir solchen Patienten verabreichen."
Welche medizinische Mythen kennen Sie?
Teilen Sie die Ansichten von Dr. Pauww? Von welchen Mythen im Laufe ihres Berufslebens können Sie erzählen? Schreiben Sie uns gerne Ihre Erfahrungen unten in das Kommentarfeld.
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