Wer war der Arzt hinter Sherlock Holmes?
Sherlock Holmes ist eine Ikone, eine Berühmtheit. Doch hinter dem Detektiv aus der Baker Street steht ein schottischer Arzt, den kaum jemand kennt. Wer war der Mediziner, der Arthur Conan Doyle mit seinem scharfen Blick für Details so sehr inspirierte, dass er einen Detektiv erfand, dessen Aushängeschild wissenschaftliche Methode und die Kunst der Deduktion werden sollten?
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Autor: Sebastian Schmidt
Es gibt wohl kaum einen Detektiv, der so berühmt ist wie Sherlock Holmes. Ikonisch steht er mit Pfeife und Hut für den Beruf des Privatdetektivs. Noch heute suchen viele Menschen den Rat von Holmes und senden Briefe in die Baker Street. Und das, obwohl es sich bei Holmes um eine Romanfigur handelt.
Hinter dem Romanhelden Sherlock Holmes steht jedoch ein besonderer Mediziner – und dabei handelt sind weder um John H. Watson, seinen Kompagnon, Mitbewohner und Chronisten und auch nicht um seinen Schöpfer Sir Arthur Conan Doyle. Dieser nämlich studierte in Edinburgh Medizin und traf dort auf den Arzt, dessen Methoden die Inspiration zur Figur des berühmten Detektivs aus der Baker Street werden sollten – sein Name: Joseph Bell. Doch wer war dieser Mann?
Joseph Bell, ein Arzt mit besonderer Hirngabe
1837 wurde Joseph Bell in eine Ärztefamilie aus Edinburgh geboren. Er studierte ebenfalls Medizin und spezialisierte sich nach seinem Abschluss an der Edinburgh Medical School als Chirurg. In diesem Fachgebiet dozierte er auch 40 Jahre später am Royal Infirmary of Edinburgh, wo ein junger Medizinstudent namens Conan Doyle seinen Ausführungen gebannt folgte. Die genauen Umstände sind nicht bekannt, doch wenige Monate später arbeitete Conan Doyle als Assistent für Bell und konnte dessen Tun so aus nächster Nähe studieren.

Vor allem die ungewöhnliche Beobachtungsgabe und die Schlussfolgerungen zu denen Bell bei den Visiten am Krankenbett, im Lehrsaal und in der Klinik fähig war, verliehen dem Mediziner einen besonderen Ruf über die Grenzen der Fakultät hinaus. Und sie faszinierten auch Conan Doyle:
„All dies hat mich sehr beeindruckt. Ich hatte ihn ständig vor Augen - seine scharfen, stechenden grauen Augen, seine Adlernase und seine markanten Gesichtszüge. Er saß auf seinem Stuhl, hielt die Finger zusammen - er war sehr geschickt mit seinen Händen - und betrachtete den Mann oder die Frau vor ihm. Er war sehr freundlich und gewissenhaft im Umgang mit den Studenten - ein wirklich guter Freund.“1
Die Kunst der Deduktion hilft bei der Diagnose
Bell selbst beschrieb seine Methode, die die meisten als Deduktion aus den Romanen von Arthur Conan Doyle kennen, einmal so: „Auch der Patient wird wahrscheinlich von Ihrer Fähigkeit, ihn in Zukunft zu heilen, beeindruckt sein, wenn er sieht, dass Sie auf den ersten Blick viel über seine Vergangenheit wissen.“ Und es könnte auch der berühmte Detektiv aus London sprechen, wenn er weiter ausführt: „Die Physiognomie hilft Ihnen zum Beispiel bei der Bestimmung der Nationalität, der Akzent bei der Bestimmung des Stadtviertels und, für ein geschultes Ohr, fast der Grafschaft.“1
Von der scharfen Beobachtungsgabe des schottischen Mediziners zeugen die Ausführungen, in denen er darauf hinweist, dass „beinahe jedes Handwerk (…) sein Zeichen-Handbuch auf die Hände“ schreibe und so beispielsweise durch unterschiedliche Narben und Schwielen Bergmänner, Zimmermänner, Schumacher und Schneider voneinander zu unterscheiden seien. Der Gang, Tätowierungen und die „Ornamente an der Uhrkette“ könnten ebenfalls Hinweise zur Person geben; in diesen Fällen zu Beruf, Herkunft und zum Wohlstand des Gegenübers.1+2
Bei Conan Doyle klingt das in der Geschichte „Im Zeichen der Vier“ folgendermaßen: Watson stellt fest, dass Sherlock Holmes über eine „außerordentliche Begabung für Details verfüge. Holmes antwortet: „Ich schätze ihre Wichtigkeit. (…) Hier ist auch eine witzige kleine Arbeit über den Einfluß eines Berufes auf die Form der Hand, mit Lithographien der Hände von Dachdeckern, Seeleuten, Korkenschnitzern, Schriftsetzern, Webern und Diamantschleifern. Das ist eine Sache großen praktischen Interesses für den wissenschaftlichen Detektiv – besonders in Fällen nicht identifizierter Leichen oder im Entdecken des Vorfahren von Verbrechern.“3
Und so kann man wohl sowohl für die medizinische Diagnostik von Bell wie auch für die detektivische Deduktion von Conan Doyles Holmes davon sprechen, dass beide die genaue Beobachtung und eine wissenschaftliche, systematische Herangehensweise für elementar hielten, um in ihrem jeweiligen Aufgabengebiet erfolgreich zu sein.
Oder um es mit Bell zu sagen: „Verfolgen Sie dieselbe Idee, die eigenen Sinne genau und ständig zu gebrauchen, und Sie werden sehen, dass so mancher chirurgische Fall seine nationale, soziale und medizinische Vorgeschichte mit in das Sprechzimmer bringt, wenn der Patient hereinkommt.“ Eins ist dem Lehrer Bell dabei jedoch wichtig: „In der Tat muss der Schüler gelehrt werden, zu beobachten."1+2
Kein Holmes, doch mit detektivischem Spürsinn
Bei aller Gemeinsamkeit, so gab es einige Personen in Bells Umfeld, die eine klare Abgrenzungen zwischen dem Freund Bell und der Figur Sherlock Holmes versuchten, der oft als kühl, rational und berechnend beschrieben wird. So zeichnet Jessie Margaret Saxby, eine Freundin des Hauses Bell, in der Biografie über den Chirurgen das Bild eines Mannes für den Bescheidenheit, Menschlichkeit, Großzügigkeit und medizinischer Idealismus wesentliche Werte seines Tuns sind: „Wie er gelebt hatte, so starb Joe Bell, tapfer, selbstvergessen, vom Göttlichen getragen...Ich werde seinesgleichen nie wieder sehen.“4+5
Detektivisch tätig war er nichtsdestoweniger. So wurde er, ganz ähnlich wie sein literarischer Zwilling auch mehr als einmal von der Polizei um Hilfe gebeten, wenn diese bei den Ermittlungen nicht weiterkam. Zu weitreichender Bekanntheit gelangte der Schotte so auch deshalb, weil sein Rat in einem Fall eines Serienmörders gefragt war, der in Whitechapel (London) grausame Morde an jungen Frauen verübte und der als Jack the Ripper bekannt wurde.2
Bell hinterlässt ein Vermächtnis für Medizin und Literatur
1911 schließlich starb Joseph Bell und wurde auf dem Dean Cemetery in seiner Heimatstadt beigesetzt. Bis dahin hatte er sich verdient gemacht als persönlicher Chirurg von Königin Victoria, war von 1887 bis 1889 Präsident des Royal College of Surgeons in Edinburgh und gab 23 Jahre lang das Edinburgh Medical Journal heraus.2 Ein Brief, den Conan Doyle im Mai 1892 an Bell geschrieben hatte, zeigt jedoch, dass sein Vermächtnis weit über die Medizin hinaus gehen würde:
"Mein lieber Bell, Sherlock Holmes verdanke ich ganz sicher Ihnen, und obwohl ich in den Geschichten den Vorteil habe, [den Detektiv] in alle möglichen dramatischen Positionen bringen zu können, glaube ich nicht, dass seine analytische Arbeit auch nur im Geringsten eine Übertreibung einiger Effekte ist, die ich bei Ihnen in der Ambulanz gesehen habe. Um das Zentrum der Deduktion, der Schlussfolgerung und der Beobachtung herum, das Sie mir eingeschärft haben, habe ich versucht, einen Mann aufzubauen, der die Sache bis zum Äußersten getrieben hat - gelegentlich sogar noch weiter -, und ich bin so froh, dass das Ergebnis Sie befriedigt hat, der Sie der Kritiker sind, der das meiste Recht hat, streng zu sein."4