Fallauflösung: Ein 35-Jähriger mit Wutausbrüchen und Gedächtnisstörungen
Erfahren Sie im zweiten Teil der Kasuistik, welche Diagnose hinter den Symptomen steckt und ob dem Mann geholfen werden kann.
Lesedauer: ca. 6 Minuten

Autorin: Niranjan N. Singh | Redaktion: Alisa Ort
Der 35-jährige Patient leidet unter der Huntington-Krankheit. Er erlebt eine schleichend einsetzende und langsam fortschreitende Bewegungsstörung. Die unwillkürlichen Bewegungen kommen während des Schlafes nicht vor. Seine Bewegungen werden als choreoathetotisch beschrieben. Die Familiengeschichte deutet auf einen autosomal-dominanten Erbgang hin. Neben den Bewegungsstörungen weist der Patient auch neuropsychiatrische Manifestationen auf. In der Familie gab es sogar einen frühen Tod infolge einer Depression. Im kranialen MRT fanden sich Hinweise auf eine Atrophie des Nucleus caudatus (s. Abb.).


Differenzialdiagnostik
Differenzialdiagnostisch kommen die Nebenwirkungen antipsychotischer Medikamente infrage, die zu Spätdyskinesien führen können, doch hat er wohl nie eine derartige Erkrankung mit einer solchen Medikation gehabt. Es finden sich zudem keine Hinweise auf eine Infektion oder eine kardiale Beteiligung. Nach EKG-Veränderungen oder Anomalien in der transthorakalen Echokardiografie, wie sie bei Personen mit einer Chorea Sydenham vorkommen, suchte man hier vergebens. Auch ist die Familienanamnese negativ für die Chorea Sydenham. Es wurden auch keine Akanthozyten festgestellt, die man bei einer Chorea-Akanthozytose (Levine-Critchley-Syndrom) sehen kann.
Motorische, kognitive und neuropsychiatrische Störungen
Die Huntington-Krankheit ist eine seltene neurodegenerative ZNS-Störung, die durch choreiforme Bewegungen, Verhaltens- und psychiatrische Störungen und Demenz gekennzeichnet ist.1 Sie folgt einem autosomal-dominanten Erbgang und zählt zu den Trinukleotid-Repeat-Erkrankungen oder expandierenden Repeat-Erkrankungen.
Dabei kommt es zu einer ererbten Expansion von CAG-Trinukleotid-Wiederholungen im Huntingtin-Gen (HTT) auf Chromosom 4. Dies führt zur Produktion eines mutierten Huntingtin-Proteins (mHTT) mit einer abnorm langen Polyglutamin-Wiederholung.2 Personen mit mehr als 39 CAG-Wiederholungen entwickeln die Krankheit, während bei Personen mit 36 bis 39 Wiederholungen eine geringere Penetranz zu beobachten ist.
Der Ausbruch der Krankheit ist zu erwarten, wenn das Gen in der väterlichen Linie weitergegeben wird, wie in diesem Fall. Ein Vater mit einer CAG-Wiederholungslänge im mittleren Bereich kann ein Kind mit einer erweiterten pathogenen Wiederholungslänge haben. Dies liegt daran, dass das männliche Sperma eine größere Wiederholungsvariabilität und größere Wiederholungsgrößen aufweist als somatisches Gewebe. Das mutierte Huntingtin-Protein führt über verschiedene Pathomechanismen zu neuronalen Funktionsstörungen und zum Tod. Postmortale Studien zeigen eine diffuse Atrophie des Nucl. caudatus und des Putamen.
Prävalenz
Die Prävalenz in der weißen Bevölkerung wird mit etwa 1:10.000 bis 20.000 angegeben. Das Durchschnittsalter beim Einsetzen der Symptomatik liegt bei 30 bis 50 Jahren. In einigen Fällen beginnen die Symptome bereits vor dem 20. Lebensjahr mit Verhaltensstörungen und Lernschwierigkeiten in der Schule, was man als juvenile Huntington-Krankheit (Westphal-Variante) bezeichnet.3
Die erste Beschreibung stammt von Waters aus dem Jahr 1842. Nach einer Beschreibung durch George Huntington im Jahr 1872 wurde die Krankheit jedoch als Chorea Huntington bekannt. Im Jahr 1983 wurde ein Zusammenhang mit dem Chromosom 4 festgestellt und 1993 wurde das Gen für die Huntington-Krankheit gefunden.1
Die Diagnose der Huntington-Krankheit wird durch den Nachweis eines autosomal-dominanten Erbgangs oder über einen Gentest bei einer entsprechenden Klinik gesichert.4
Klinisches Erscheinungsbild
Das klinische Erscheinungsbild der Huntington-Krankheit setzt sich aus motorischen, kognitiven und neuropsychiatrischen Symptomen zusammen. Die Krankheit nimmt einen biphasischen Verlauf mit einer hyperkinetischen Phase mit Chorea im Frühstadium der Erkrankung, welche dann in eine hypokinetische Phase Bradykinesie, Dystonie, Gleichgewichtsstörungen und Gangstörungen übergeht. Bei der juvenilen Variante herrscht die Bradykinesie vor.5
Kognitive Störungen können sich bereits viele Jahre vor dem Auftreten anderer Symptome bemerkbar machen. Hier stehen eine Beeinträchtigung der Emotionserkennung, der Verarbeitungsgeschwindigkeit und der Exekutivfunktionen im Vordergrund. Die neuropsychiatrischen Symptome sind sehr unterschiedlich. Hier sieht man vor allem Apathie, Angstzustände, Reizbarkeit, Depression, zwanghaftes Verhalten und Psychosen.
An welche Erkrankungen noch gedacht werden sollte
Es gibt eine Reihe von Erkrankungen, die der Huntington-Krankheit ähneln: die spinozerebelläre Ataxie Typ 1 bis 3 und 17 sowie die Friedreich-Ataxie, die mit einer Neuropathie einhergeht. Kommt es in diesem Rahmen auch zu Krampfanfällen, sollte an eine dentatorubro-pallidoluysische Atrophie gedacht werden. Akanthozyten werden bei Patienten mit Neuroakanthozytose beobachtet.6-8 Eine isolierte Chorea kann man bei erworbenen Erkrankungen vorfinden: Chorea gravidarum, systemischer Lupus erythematodes, Antiphospholipid-Syndrom, Thyreotoxikose, postinfektiöse Syndrome, Polyzythämie vera und nach Konsum bestimmter Drogen.
Gentests auf die mHTT-Mutation können entweder diagnostisch oder prädiktiv sein.5 Ein entsprechender Gentest kann durchgeführt werden, wenn eine Person die typischen motorischen Merkmale der Huntington-Krankheit aufweist. Vor dem Test sollte die betroffene Person jedoch über die Huntington-Krankheit und ihre Vererbbarkeit aufgeklärt werden, da ein positives Ergebnis gravierende Folgen für die Person selbst und auch auf ihr komplettes soziales Umfeld haben kann. Prädiktive Tests werden bei asymptomatischen Patienten zumeist durchgeführt, wenn es um möglichen Nachwuchs geht.
Multidisziplinärer Therapieansatz
Um der Huntington-Krankheit optimal begegnen zu können, ist ein multidisziplinärer Ansatz nötig, der Neurologie, Pflegepersonal, Physiotherapie, Logopädie, Diätfachkräfte und anderes medizinisches Fachpersonal einbindet. Das Ziel besteht in der Optimierung der Lebensqualität auf der Grundlage der sich beständig ändernden Bedürfnisse der betroffenen Person.
Therapeutisch wird eine Kombination aus pharmakologischen Maßnahmen und Lebensstilanpassungen einschließlich einer Verhaltenstherapie angestrebt. Zur Behandlung der choreatiformen Bewegungsstörungen können Tetrabenazin und Deuterbenazin als modifizierte Form eingesetzt werden. Eine anhaltende antichoreatische Wirkung wird bei 50 bis 75 mg pro Tag beobachtet.9 Zu den Nebenwirkungen gehören Depressionen und Angstzustände. Auch mit Sulpirid, Olanzapin, Risperidon und Quetiapin wird die Chorea behandelt. Hier sind dann Gewichtszunahme und Sedierung wichtige Nebenwirkungen.
Was die Datenlage zur Behandlung der psychiatrischen Symptome im Rahmen der Huntington-Krankheit angeht, so liegt hier nur wenige Evidenz vor. Depressionen, Angstzustände, Zwangsstörungen und Reizbarkeit können mit nicht pharmakologischen Maßnahmen wie kognitiver Verhaltenstherapie oder psychodynamischer Therapie behandelt werden. Mögliche medikamentöse Therapien arbeiten mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) wie Citalopram, Fluoxetin, Paroxetin, Sertralin, Mirtazapin und Venlafaxin.
Zur Behandlung von Psychosen können Neuroleptika eingesetzt werden. Gegen Apathie kommen Methylphenidat, Atomoxetin, Modafinil, Amantadin, Bromocriptin und Bupropion infrage. Für wirksame Medikamente zur Unterstützung bei kognitiven Beeinträchtigungen liegen keine Evidenzen vor. Hier können Bewältigungsstrategien eine Alternative darstellen.
Kausale Behandlungsmöglichkeiten werden erforscht
Neben der symptomatischen Behandlung haben Medikamente bislang in klinischen Studien keine krankheitsmodifizierende Wirkung zeigen können. Die vielversprechendsten Ansätze in dieser Richtung zielen auf eine Absenkung des mHTT-Spiegels ab, indem sie sich gegen die DNA oder die RNA des mHTT-Gens richten.10 Die RNA kann durch Antisense-Oligonukleotide (ASO), RNA-Interferenz (RNAi) oder niedermolekulare Splicing-Inhibitoren ins Visier genommen werden.
ASOs werden aktuell erstmalig am Menschen getestet. Sie werden intrathekal verabreicht und katalysieren den Abbau von HTT-mRNA durch RNAse H, wodurch weniger mHTT synthetisiert wird. In Tiermodellen führt dies zu einer dauerhaften Verringerung der HTT-mRNA-Spiegel um bis zu 80 %. Die DNA kann mit Blick auf das mHTT auf zweierlei Arten angegangen werden: Zinkfingerproteine und das CRISPR/Cas9-System (clustered regularly interspaced short palindromic repeats). Dieser Ansatz wurde erfolgreich im Nagetiermodell der Huntington-Krankheit getestet.11
Der Patient wies einen CAG-Repeat-Wert von 78 auf
Bei dem Patienten im vorliegenden Fall wurde die Huntington-Krankheit mit einem CAG-Repeat-Wert von 78 diagnostiziert. Er erhielt Tetrabenazin gegen abnorme Bewegungen und Citalopram gegen Depressionen und beantragte den Erwerbsunfähigkeitsstatus. Seine Kinder sind asymptomatisch, und die Familie beschloss, keine entsprechenden Untersuchungen durchführen zu lassen, bis sich Symptome einstellen oder bis die Kinder volljährig sind.
Welche klinische Manifestation ist bei der Huntington-Krankheit häufig?
Welches Medikament wird am häufigsten zur Behandlung der Bewegungsstörungen im Rahmen der Huntington-Krankheit eingesetzt?
Dieser Beitrag ist im Original auf Medscape.com erschienen.