Titelbild von Der besondere Fall
Logo von Der besondere Fall

Der besondere Fall

02. März 2023

Ein 35-Jähriger mit Wutausbrüchen und Gedächtnisstörungen

Unwillkürliche Bewegungen, Wutausbrüche und Gedächtnisverlust quälen einen 35-jährigen Mann – woran könnte es liegen?

Lesedauer: ca. 4 Minuten

Mann Wutausbruch
(Foto: Getty Images | Westend61)

Autorin: Niranjan N. Singh | Redaktion: Alisa Ort

Ein 35-jähriger Mann stellt sich wegen abnormaler Bewegungen, die seit 6 Jahren bestehen, in der neurologischen Klinik vor. Seine unwillkürlichen Bewegungen begannen im rechten Arm, setzten sich im linken Arm fort und bezogen dann auch das linke Bein, Kopf und Hals mit ein. Diese Bewegungen treten nur im Wachzustand auf, nicht jedoch im Schlaf. Sie werden als ruckartig und ungerichtet beschrieben.

Sein Gang ist zudem tänzelnd geworden. Er beklagt auch selbst, dass sich sein Verhalten verändert hat. Er hat jetzt häufig Wutausbrüche und betrachtet sich als aggressiver als früher. Zugleich hat er mehr depressive Verstimmungen und Schlafstörungen. Die abnormalen Bewegungen verschlimmern sich unter den Wutausbrüchen und bei den Stimmungsschwankungen.

Er kann seinen Alltag nicht mehr bestreiten

Die Kraft in den Gliedmaßen scheint normal zu sein, doch ist er nicht in der Lage, normale Tätigkeiten im Haushalt auszuführen. Familienangehörige haben auch Gedächtnisstörungen bei ihm festgestellt. Seit 3 Monaten kann er jetzt seiner Arbeit als Maschinenführer nicht mehr nachgehen.

Er hat bisher keine Psychopharmaka wie Phenytoin, Phenothiazin, Haloperidol, L-Dopa, Lithium, Isoniazid, Amphetamine, trizyklische Antidepressiva oder andere vergleichbare Substanzen eingenommen. Fragen nach Schmerzen in der Brust, nach Atemnot oder Gelenkschmerzen jetzt oder früher verneint er sämtlich.

Die Familienanamnese ist auffällig

In der Familie gibt es Geschichten über den Großvater väterlicherseits mit ähnlichen Symptomen und auch sein Vater habe dies gehabt. Beide sind aber schon relativ früh im Alter von 60 bzw. 55 Jahren verstorben. Der Patient hat 5 Geschwister, nämlich 2 Brüder und 3 Schwestern. Sein älterer Bruder nahm sich im Alter von 25 Jahren das Leben und seine ältere Schwester starb bereits mit 33 Jahren. Beide hatten abnorme Bewegungen und ein mitunter auffälliges Verhalten gezeigt. Eine seiner jüngeren Schwestern (22 Jahre) hat aktuell ebenfalls abnorme Bewegungen und ist häufiger depressiv. Sein jüngerer Bruder (17 Jahre) und die andere jüngere Schwester (14 Jahre) sind gesund und ohne derartige Beschwerden. Auch die Kinder des Patienten selbst – ein 8-jähriger Sohn und eine 10-jährige Tochter – sind gesund.

In seiner medizinischen Vorgeschichte gibt es einen Hypertonus, der mit Lisinopril (20 mg täglich) gut eingestellt ist. Er ist nie operiert worden, raucht nicht, trinkt nicht und nimmt auch keine Freizeitdrogen.

Körperliche und apparative Untersuchungen

Der Patient ist wach und voll orientiert. Er hat ein angenehmes Äußeres und ist von schlanker, muskulöser Statur. Es besteht keine Atemnot. Seine initialen Vitalparameter sind: Puls 78/min regelmäßig, Blutdruck 140/80 mmHg, Atemfrequenz 12/min, Temperatur 36,8° C, Sauerstoffsättigung 98 % bei Raumluft, BMI 23.

Bei der kardiovaskulären Untersuchung sind die peripheren Pulse normal, ebenso der Herzbefund. Herz und Lunge sind auskultatorisch unauffällig; das Abdomen ist weich. Die HNO-Untersuchung bleibt ohne pathologischen Befund. Es sind keine Hautausschläge zu erkennen. Bei der visuellen Untersuchung sind Sehschärfe, Gesichtsfeld und Augenhintergrund normal.

Sein Affekt ist flach. Neben der intakten Orientierung sind auch seine Aufmerksamkeit, die Konzentration, sein faktisches Wissen und seine Sprache normal. Sein Gedächtnis ist beeinträchtigt; die Merkfähigkeit über 3 min liegt bei ein Drittel. Er hat ein normales Langzeitgedächtnis.

Unkontrollierte Zuckungen im Gesicht

Das Sprachvermögen ist normal. Die Untersuchung der Hirnnerven zeigt normale extraokulare Bewegungen, ein vermehrtes Blinzeln, normale Sensibilität im Gesicht, und symmetrische Gesichtszüge mit unkontrollierten mimischen Zuckungen. Das Gehör und die Gaumensegelbewegungen sind normal. Auch die Zunge bewegt sich abnormal und kann maximal 20 s lang herausgestreckt werden. Die Schulterhebung ist normal. Bei der Spaltlampenuntersuchung kann kein Kayser-Fleischer-Kornealring festgestellt werden.

Bei der Prüfung der Motorik fällt ein verminderter Tonus der Muskulatur auf. Die Muskelmasse ist normal. Die Prüfung der groben Kraft kommt für alle Extremitäten auf einen Wert von 5/5. Es wird keine Atrophie festgestellt, Faszikulation sind nicht sichtbar. Die tiefen Sehnenreflexe sind normal (2+ bei den Beugesehnen). Die Sensibilitätsprüfung ist unauffällig. Der Finger-Nasen-Test ist normal. Die Untersuchung des extrapyramidalen Systems zeigt einen verminderten Tonus und unwillkürliche choreoathetotische Bewegungen, die sowohl die oberen und unteren Extremitäten als auch das Gesicht betreffen. Der Patient fällt zudem mit einem tänzelnden Gang auf.

Im Labor finden sich keine Auffälligkeiten, jedoch im MRT

Das große Blutbild sowie umfangreiche Stoffwechselparameter einschließlich des Kupferwertes im Serum und im Urin und des TSH-Wertes sind völlig normal. Die BSG beträgt 22 mm/h (normal 0–22 mm/h). Ein abgeleitetes EKG, ein transthorakales Echokardiogramm (Ejektionsfraktion 65 %) und der Röntgenthorax waren auf Seiten der apparativen Erstdiagnostik alle normal. Auch die laborchemische Analyse des Liquors brachte keine diagnostischen Hinweise.

Im kranialen MRT wurden Anzeichen einer beidseitigen Nucl.-caudatus-Atrophie mit vergrößertem interkaudalem Abstand gesehen (s. Abb.).

Kraniales MRT
Abb.: Kraniales MRT (Foto: Medscape.com)
Kraniales MRT
Abb.: Kraniales MRT (Foto: Medscape.com)

Welche Diagnose ist auf der Basis der vorliegenden Informationen am wahrscheinlichsten?

Erfahren Sie im zweiten Teil der Kasuistik, welche Diagnose hinter den Symptomen steckt und ob dem Mann geholfen werden konnte.

zur Auflösung >>

Dieser Beitrag ist im Original auf Medscape.com erschienen.

Quellen anzeigen
Impressum anzeigen