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Der besondere Fall

01. Sep. 2023

Ein Krebs-Kranker mit extremer Lust auf süße Getränke

Die Dysgeusie ist nicht nur eine häufige und unangenehme Nebenwirkung einer Chemotherapie. Sie kann sogar lebensbedrohliche Folgen haben.1

Lesedauer: ca. 4 Minuten

Regal mit vielen Softdrinks
Große Auswahl an süßen Getränken (Getty Images / LoraLiu)

Autor: Dr. Thomas Kron | Redaktion: Christoph Renninger

Der Patient und seine Geschichte

Bei dem Patienten handelte es sich um einen 67-jährigen Mann mit Hypertonie, Diabetes mellitus Typ 2, Herzinsuffizienz, Vorhofflimmern und einem Adenokarzinom der Lunge, das vier Monate zuvor diagnostiziert worden war. Nach der Tumor-Resektion erhielt der Mann eine adjuvante Chemotherapie mit Cisplatin und Vinorelbin. Der Patient wurde zwei Tage nach Beendigung des zweiten Chemotherapiezyklus in die Krankenhaus-Notaufnahme gebracht, da er bewusstlos aufgefunden worden war.

Befunde und Diagnose

  • Bei der Untersuchung in der Notaufnahme reagierte der Mann nicht auf Geräusche und Schmerzreize und sprach auch nicht; die Pupillen reagierten auf Licht und waren symmetrisch.
  • Blutdruck 101/55 mmHg, Puls 126 Schläge pro Minute, Atemfrequenz 26, normale Körpertemperatur (36,6 °C).
  • Eine Blutgasanalyse ergab eine metabolische und respiratorische Azidose sowie eine Hyperlaktazidämie (5,5 mmol/L).
  • Elektrokardiogramm: Vorhofflimmern
  • Laborbefunde: ausgeprägte Hyperglykämie (2, 255 mg/dL), Hinweise auf eine akute Nierenschädigung (Harnstoff von 59 mg/dL und Kreatinin von 2,02 mg/dL), Hypernatriämie (184 mmol/L) und Hypokaliämie (2,4 mmol/L).
  • Eine kraniale Computertomographie war unauffällig.
  • Die Urinanalyse und urologischer Ultraschall waren ebenfalls unauffällig (keine Ketonkörper, keine Hinweise auf eine Harnwegsobstruktion).
  • Die Serumosmolalität betrug 343 mOsm/kg.
  • Diagnose: hyperosmolare Hyperglykämie

Therapie und Verlauf

Der Patient wurde auf die Intensivstation verlegt, wo er sich nach Gabe von Insulin und Flüssigkeit rasch erholte. Auf der Suche nach der Ursache für den Krankheitsverlauf wurde eine Ganzkörper-Computertomographie durchgeführt; sie zeigte eine ausgeprägte Flüssigkeits- und Gasausdehnung des Magens und des Dickdarms.

Dies ließ den Autoren zufolge als Ursache zum einen eine reichliche Flüssigkeitsaufnahme vermuten und zum anderen einen Magenbezoar. Die obere gastrointestinale Endoskopie ergab keine pathologischen Befunde, so dass die Hypothese eines Bezoars ausgeschlossen werden konnte.

Nach erfolgreicher Therapie einer Aspirationspneumonie mit schwerem Atemversagen wurde der Patient auf eine internistische Normalstation verlegt, wo eine vollständige Anamnese des wieder bewusstseinsklaren Mannes erhoben wurde. Wie die portugiesischen Autoren berichten, gab er an, nach der letzten Chemotherapie eine schwere Dysgeusie (Metallgeschmack und Zungenbrennen) und Polydipsie entwickelt zu haben. Daher habe eine große Anzahl von stark gezuckerte Erfrischungsgetränken (angeblich etwa elf Liter) getrunken.

Nach weiteren Angaben der Autoren hatte der Patient einen Diabetes, der 10 Jahre zuvor diagnostiziert worden war. Seine  Stoffwechseleinstellung war zunächst gut (HbA1c 5,2 %, vier Monate vor dem Krankenhausaufenthalt). Bei seinem aktuellen Krankenhausaufenthalt betrug sein HbA1c-Wert jedoch 10,3 %.

Es wurde eine Insulintherapie mit einem langwirksamen Insulinanalogon eingeleitet, die gut vertragen wurde. Zudem erhielt der Mann von einer Ernährungsberaterin individuelle Ernährungsempfehlungen zur Kontrolle des Blutzuckerspiegels sowie zur Linderung von Chemotherapie-Symptomen wie der Dysgeusie (Vermeidung von heißen Speisen, Bevorzugung von kalten Speisen und Getränken, Vermeidung von zuckerhaltigen Getränken, Bevorzugung von Getränken mit Zitrone oder anderen Fruchtsäften, Vermeidung von Silberbesteck aus Metall und Bevorzugung von Plastik).

Diskussion

Die Dysgeusie ist eine der häufigsten Nebenwirkungen der Chemotherapie und kann die Lebensqualität der Patienten erheblich beeinträchtigen. Die Prävalenz lässt sich nur schwer abschätzen. In einer systematischen Übersichtsarbeit wurde eine Dysgeusie von 14 % bis 100 % der Patienten berichtet, die eine Chemo- und Strahlentherapie erhielten. Der Schweregrad der Dysgeusie hängt von der Krebsart und der Art der Behandlung ab.

Hauptursachen von Geschmacksstörungen sind laut Dr. Catalina Högerle (Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, Klinikum der Universität München) Schädel-Hirn-Traumata, Infektionen des oberen Respirationstrakts, Tumoren, Exposition gegenüber toxischer Substanzen, iatrogene Ursachen (z. B. zahnärztliche Behandlung oder Bestrahlung) und das „burning mouth syndrome“. Zusätzlich seien der Zahnstatus und die Mundhygiene zu beachten, da mikrobielle Zersetzungsprodukte die gustatorischen Rezeptorzellen beeinträchtigen könnten.

Eine zunehmende Relevanz im Alter habe die Assoziation von Riech- und Geschmacksstörungen mit zahlreichen internistischen Erkrankungen (etwa Diabetes mellitus, Hypothyreose, Morbus Sjögren, Nieren- und Lebererkrankungen) sowie medikamenteninduzierte Riech- und Geschmacksstörungen (z. B. durch Antibiotika, topische nasale Medikamente, kardiovaskuläre Medikamente, Thyreostatika, Anti-Parkinson- Medikamente, Zytostatika, Antiepileptika, Antihistaminika, Anticholinergika und Antidepressiva).

Bei dem 67-jährigen Mann hatte die Dysgeusie ein extremes Trinkverhalten und Dekompensation des Diabetes zur Folge. Sie tritt in der Regel im Zusammenhang mit einer Infektion oder einer schlechten Therapietreue des Diabetikers auf. Aber auch der übermäßige Verzehr einer kohlenhydratreichen Kost kann diesen Zustand auslösen.

Bei dem 67-jährigen Mann begann die Dekompensation mit der Chemotherapie. Tatsächlich wurde den Autoren zufolge Cisplatin mit Hyperglykämie und in seltenen Fällen sogar mit einem hyperosmolaren hyperglykämischen Zustand in Verbindung gebracht. Die portugiesischen Ärzte gehen davon aus, dass Cisplatin bei ihrem Patienten eine zentrale Rolle gespielt haben könnte, indem es ihn zu einer permanenten hyperglykämischen Dekompensation prädisponiert habe, die schließlich zu einem lebensbedrohlichen Zustand geführt habe, der durch das extreme Trinkverhalten ausgelöst worden sei.

Die Dysgeusie wird mit einer Vielzahl von Chemotherapeutika in Verbindung gebracht. Die genauen ätiologischen Mechanismen sind noch nicht bekannt; es gibt jedoch einige mögliche Ursachen, z. B. die Schädigung von Geschmacks- und Riechzellen, Neurotoxizität und Xerostomie. Die Strahlentherapie ist auch mit einer Störung der Struktur der Geschmacksknospen und des oralen Epithels verbunden. Stomatitis und Mukositis spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Der 67-jährige Mann wurde mit Cisplatin und Vinorelbin behandelt. Diese Kombination wurde mit peripherer sensorischer Neuropathie, oraler Mukositis und Dysgeusie in Verbindung gebracht.

Eine mögliche pharmakologische Therapie ist die Gabe von Zink, das das Geschmacksempfinden verbessern soll, allerdings sei der Effekt begrenzt, erklären Pombo und seine Kolleginnen. Der Mechanismus sei noch nicht vollständig geklärt, aber Zink sei ein Kofaktor der alkalischen Phosphatase, die ein häufig vorkommendes Enzym in den Geschmacksknospen sei.

Dieser Beitrag erschien im Original bei Univadis.

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