Klinische Kombination führt zur Diagnose
Erfahren Sie hier im zweiten Teil des Beitrags, was die Ärztinnen und Ärzte bei dem Mann (40) mit progressiver, sensomotorischer Neuropathie, Dysautonomie und gastrointestinalen Symptomen diagnostizieren.
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Mit der klinischen Kombination aus einer progressiven, sensomotorischen Neuropathie, die von der Länge der Nerven abhängt, einer ausgeprägten Dysautonomie und gastrointestinalen Symptomen, die zu einem erheblichen Gewichtsverlust führen können, ist das Krankheitsbild dieses Patienten am ehesten mit einer hereditären ATTR-Amyloidose vereinbar, d.h. eine Amyloidose aufgrund einer Transthyretin-Variante. Es wurde eine Sequenzierung des Transthyretin-Gens durchgeführt, wobei eine V30M-Mutation entdeckt wurde.
Aminosäure-Substitutionsmutationen im TTR-Gen
Das Transthyretin ist ein tetrameres Transportprotein für Thyroxin und Retinol (Vitamin A).1 Der größte Teil des Transthyretins wird in der Leber produziert, ein kleiner Teil (< 5 %) im Pigmentepithel der Netzhaut und im Plexus choroideus.1,2 Einzelne Aminosäure-Substitutionsmutationen im TTR-Gen auf Chromosom 18 destabilisieren das Tetramer, sodass Monomere anfallen.3–5 Diese bilden dann Amyloidfibrillen (ATTR), die sich in den Geweben ablagern und dort zu Schädigungen führen.6 Zu den am häufigsten betroffenen Geweben gehören die peripheren Nerven und das Herz. Es kann jedoch auch zu Ablagerungen im Auge und in den Leptomeningen kommen.5
Autosomal-dominante Erkrankung
Bei der ATTRv-Amyloidose handelt es sich um eine autosomal-dominante Erkrankung mit variabler Penetranz, bei der mehr als 130 Mutationen identifiziert wurden.4,6 Die geschätzte Prävalenz dieser Erkrankung liegt nach einer Studie weltweit bei etwa 10.000 Menschen
Am häufigsten V30M und V122I-Mutation
Rund 43 % aller Fälle sind in den endemischen Ländern Portugal, Schweden und Japan zu verzeichnen.7 Die häufigste Mutation ist V30M, die bei etwa 75 % der Betroffenen mit einer ATTRv-Amyloidose gefunden wird. Die V122I-Mutation und der kardiale Phänotyp sind in den USA am häufigsten.6,8
Erkrankungsalter: 30 bzw 50 Jahre
Menschen mit V30M-Mutationen entwickeln typischerweise in jüngeren Jahren Symptome, wobei einige Studien ein durchschnittliches Erkrankungsalter von etwa 30 Jahren aufführen. Bei Personen mit Nicht-V30M-Mutationen tritt die Krankheit oft erst im Alter von 50 bis 60 Jahren auf. Diese Altersmittel variieren jedoch von Land zu Land, wobei im Allgemeinen die Erkrankung in endemischen Regionen früher einsetzt als in nicht endemischen Gebieten.6,9
Neuropathie-Symptomatik typisch
Die Erkrankten weisen typischerweise eine progressive periphere sensomotorische Neuropathie auf, die zuerst vornehmlich die langen Nerven betrifft, oder zeigen kardiale Symptome aufgrund einer restriktiven Kardiomyopathie. Es überwiegen entweder die kardialen oder die neuropathischen Symptome.6 Die Hälfte der Betroffenen, die sich aufgrund ihrer Neuropathie-Symptomatik vorstellt, entwickelt schließlich auch eine Kardiomyopathie.
Über Jahre weitergehender Sensibilitätsverlust
Bei der Neuropathie sind zunächst die distalen kleinen myelinisierten und nicht myelinisierten Nervenfasern betroffen, was zu einer ausgeprägten und frühen autonomen Dysfunktion, zum Verlust des Schmerz- und Temperaturempfindens in den distalen unteren Extremitäten sowie zu Taubheit, Schmerzen oder Parästhesien führt.6 Bei den meisten kommt es innerhalb von 5 Jahren nach dem Einsetzen der Beschwerden zu einem weitergehenden Sensibilitätsverlust und zu einer Schwäche in Oberschenkeln, Rumpf und in den oberen Extremitäten.6,9
Weitere Symptome: Erektile Dysfunktion, gastrointestinale Beschwerden
Zu den Symptomen gehören auch die erektile Dysfunktion und eine orthostatische Hypotonie, trockene Augen und gastrointestinale Symptome wie Obstipation, Diarrhö oder beides.6,9 Aufgrund der fokalen Ablagerung von ATTRv können die Betroffenen ein beidseitiges Karpaltunnelsyndrom entwickeln, das sich auch nach chirurgischer Intervention nicht bessert.6,9
Oft tödlicher Verlauf der ATTRv-Amyloidose
Die ATTRv-Amyloidose verläuft aufgrund der schweren autonomen Neuropathie mit erheblich beeinträchtigten gastrointestinalen Funktionen und der Entwicklung einer Kachexie durch den schlechten Ernährungszustand oft tödlich.11 Herzversagen ist letztlich die häufigste Todesursache.5 Das Fortschreiten der Erkrankung kann mit verschiedenen Scoring-Systemen wie dem Neuropathy Impairment Score, dem Neuropathy Impairment Score – Lower Limbs, dem Polyneuropathy Disability Score und dem Familial Amyloid Polyneuropathy Staging System überwacht werden.10,11
Differenzialdiagnosen: CIDP, Neuropathie wegen Diabetes, Vitaminmangel
Differenzialdiagnostisch sollten aufgrund ihrer ähnlichen Symptomatiken folgende Erkrankungen in Betracht gezogen werden: chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP), periphere Neuropathie aufgrund toxischer oder metabolischer Ursachen wie Diabetes, Alkoholabusus und Vitamin-B12-Mangel, eine lumbale Spinalkanalstenose, die Leichtketten-Amyloidose und andere erbliche Neuropathien, wie die hereditäre Gelsolin-Amyloidose und die Apolipoprotein-A1-Amyloidose.2,3
Häufig kommt es zu Fehldiagnosen
Zwischen 15 und 37 % der Menschen mit ATTRv-Amyloidose und Neuropathie werden aufgrund eines erhöhten Liquoreiweißspiegels zunächst als CIDP fehldiagnostiziert.9 Wird beidseitig ein Karpaltunnelsyndrom diagnostiziert, sollte eine ATTRv-Amyloidose in Betracht gezogen werden, vor allem wenn die Retinakulumspaltung zur Entlastung des N. medianus die Beschwerden nicht zu bessern vermag.6
Labor: Serum- und Immunfixationselektrophorese, Urintest, Herzfrequenz
Durch Laborwertbestimmungen sollten eine Serum- und eine Immunfixationselektrophorese zum Ausschluss einer Leichtketten-(AL-)Amyloidose, eine Urinuntersuchung zum Ausschluss einer Proteinurie und weitere Untersuchungen zum Ausschluss metabolischer Ursachen einer Neuropathie wie die HbA1c- und Vitamin-B12-Messung durchgeführt werden. Durch Messung der Herzfrequenz bei tiefer Atmung, Bestimmung der sudomotorischen Funktion und einen Kipptisch-Test können Rückschlüsse auf eine autonome Dysfunktion getroffen werden.6,10
Diagnostik mit DNA-Analyse und Biopsie
Zur Diagnostik gehören neben der DNA-Analyse zum Nachweis einer TTR-Genmutation auch eine Gewebebiopsie zum Nachweis von ATTRv. Als Biopsieziele kommen u.a. der N. suralis, das Bauchfettgewebe, die Speicheldrüsen sowie Herz-, Magen-, Enddarm- oder Nierengewebe infrage.6
Kardiale Untersuchung: BNP, Troponin, EKG, Szintigrafie, MRT
Die kardiale Untersuchung umfasst die Bestimmung von BNP (B-Typ natriuretisches Peptid) und Troponin, die transthorakale Echokardiografie, das EKG, die Szintigrafie und das kardiale MRT. Im MRT sieht man ein klassisches spätes Enhancement aufgrund infiltrierender Amyloid-Ablagerungen und es lässt sich auch eine atriale oder ventrikuläre Amyloid-Infiltration nachweisen.2,6,11
Behandlung: (Herz- und) Lebertransplantation
Da der größte Teil des Transthyretins in der Leber gebildet wird, ist die Lebertransplantation seit langem eine wichtige Säule in der Behandlung der ATTRv-Amyloidose. Etwa 95 % der ATTRv-Produkte können entfernt werden,6,12 wodurch das Fortschreiten der Neuropathie verlangsamt oder auch aufgehalten werden kann. Die eingetretenen Schädigungen können jedoch nicht rückgängig gemacht werden. Die Herzerkrankung kann ebenfalls fortschreiten und ist möglicherweise auf Ablagerungen von Wildtyp-ATTR zurückzuführen, das von der transplantierten Leber produziert wird. In einer Studie zeigte sich ein Trend zu einem besseren Überleben nach einer kombinierten Herz- und Lebertransplantation im Vergleich zur alleinigen Lebertransplantation, wenngleich die Resultate keine statistische Signifikanz erreichten.12
TTR-Tetramer stabilisieren mit Tafamidis und Diflunisal
2 verfügbare Substanzen, die das TTR-Tetramer stabilisieren können, sind Tafamidis und das NSAID Diflunisal. Durch diese Stabilisierung der nativen Tetramerform sinkt die Zahl der anfallenden Monomere, aus denen sich die Amyloidfibrillen bilden. Dies kann das Fortschreiten der Amyloid-Ablagerung verlangsamen, aber bestehende Schäden nicht aufhalten und auch hier nicht rückgängig machen.11 Tafamidis ist zur Behandlung der Polyneuropathie und der Kardiomyopathie zugelassen, die durch die erbliche oder die Wildtyp-ATTR-Amyloidose verursacht wird.13 Die Kombination von Doxycyclin und Tauroursodeoxycholsäure (TUDCA) hat gezeigt, dass sie die Ablagerung von ATTR vermindert, was sowohl den Fortgang der Kardiomyopathie als auch der Neuropathie verlangsamen kann.11
Neue Medikamente: Patisiran und Inotersen
Zu den neuen Arzneimitteln, die speziell für die ATTRv-Amyloidose mit Polyneuropathie zugelassen wurden, gehören Patisiran und Inotersen. Patisiran ist in Deutschland derzeit die einzige zugelassene Substanz, deren Wirkung auf dem Mechanismus der RNA-Interferenz basiert und siRNA-Moleküle (small interfering RNA) beinhaltet. Als siRNA-Wirkstoff verringert er die TTR-Synthese durch mRNA-Interferenz.14 Inotersen ist ein Antisense-Oligonukleotid, das die Transthyretin-Produktion in der Leber hemmt. Beide Medikamente werden von den Hepatozyten aufgenommen und senken die TTR-Produktion und damit auch die Menge des abgelagerten ATTRv.15
Vorliegender Fall: Diflunisal, Magensonde, Biopsien
Der in diesem Fall beschriebene Patient wurde zunächst mit dem Salicylat Diflunisal behandelt, doch die Neuropathie und die autonomen Symptome nahmen weiter zu. Aufgrund seines schlechten Ernährungs- und Flüssigkeitsstatus musste er mehrfach ins Krankenhaus eingewiesen werden und wurde weiter mit einer Magensonde versorgt. Biopsien aus Duodenum, Magen und Kolon erbrachten nach massenspektrometrischer Analyse den ATTRv-Nachweis.
Erfolgreiche Stabilisierung mit siRNA-Wirkstoff, keine Transplantation
Im kardialen MRT fanden sich Anzeichen für Amyloidablagerungen, aber rein funktional war das Herz des Patienten nur minimal gestört. Die ophthalmologische Untersuchung ergab auch Hinweise auf Amyloidablagerungen im Glaskörper. Wegen der Sehstörungen wurde schließlich eine beidseitige Vitrektomie durchgeführt. Der Patient wurde von der hepatologischen Abteilung untersucht und zunächst auf die Liste für die Lebertransplantationen gesetzt. Aufgrund der erfolgreichen Stabilisierung durch die Behandlung mit dem siRNA-Wirkstoff wurde er schließlich von der Transplantationsliste gestrichen.
Dieser Beitrag ist im Original auf Medscape.com erschienen.