Mann (40) mit zahlreichen neurologischen Beschwerden
Ein 40-jähriger Mann leidet an Harnverhalt, Synkopen und neuropathischen Schmerzen. Was steckt hinter den Beschwerden?
Lesedauer: ca. 3 Minuten

Autorenteam: Amanda Kennedy, Jeffrey Kaplan, Dianna Quan | Redaktion: Dr. Linda Fischer
Ein 40-jähriger Mann findet sich zur neurologischen Untersuchung wegen einer peripheren Neuropathie ein. Vor 3 Jahren bemerkte er erstmals Taubheitsgefühle, brennende Schmerzen und ein vermindertes Temperaturempfinden in den Füßen.
In den letzten 2 Jahren hatte er häufiger trockene Augen und einen trockenen Mund, einmal auch einen Harnverhalt, den er durch selbstständige Einmalkatheterisierung therapierte. Hinzu kamen gastrointestinale Beschwerden wie einen Wechsel von Durchfall und Obstipation und Übelkeit. In den vergangenen 12 Monaten hat er 18,1 kg an Gewicht verloren. Seine Schweißbildung ist zurückgegangen und er beklagt auch eine erektile Dysfunktion.
Seit einigen Monaten leidet er unter häufigen synkopalen Episoden, die durch Lageveränderungen ausgelöst werden. Im Rückblick beschreibt er intermittierende Schwindelanfälle mit „Tagträumen“, die vor 8 Jahren begonnen haben, aber nicht mit Bewusstlosigkeit verbunden sind. Kürzlich wurde bei ihm das Sjögren-Syndrom diagnostiziert.
Er klagt weder über Brustschmerzen noch über Herzklopfen, Kurzatmigkeit oder Ödeme. Die weitere körperliche Untersuchung ist unauffällig. Anamnestisch fällt eine Hypothyreose auf. In der Familienanamnese gab es einen Großvater mit „Magen-Darm-Problemen“ und eine Schwester mit Herzrhythmusstörungen. Seine Eltern leben und sind weitgehend gesund und ohne neurologische Beschwerden. Er nimmt keine Medikamente oder Nahrungsergänzungsmittel ein.
Körperliche Untersuchung
Bei der körperlichen Untersuchung hat der Patient einen BMI von 21 kg/m2. Die Prüfung der Orthostase ergibt einen systolischen Blutdruckabfall von 60 mmHg und einen diastolischen von 20 mmHg bei einer Herzfrequenzerhöhung von 10/min. Seine Füße sind dunkel verfärbt. Die Untersuchung von Herz, Lungen, Abdomen und Bewegungsapparat ist ansonsten unauffällig.
Sein psychischer Status ist normal. Der Augenhintergrund ist unauffällig, das Gesichtsfeld und die Sehschärfe sind intakt. Die Pupillen sind symmetrisch, reagieren aber nur schwach auf Licht. Die Untersuchung der Hirnnerven ist darüber hinaus ohne pathologischen Befund.
Die Muskelmasse, der Muskeltonus und die grobe Kraft in den oberen Extremitäten sind normal. Die Kraft in den unteren Extremitäten ist symmetrisch etwas gemindert (Medical Research Council Scale for Muscle Strength): 4+/5 für Hüftflexion und Kniestreckung, 4/5 für die Dorsalflexion der Füße sowie für die Zehenflexion und -extension.
Die Kniebeugung und die Plantarflexion sind kräftig. Die Reflexantworten liegen in den Armen bei 2+, in den Knien bei 1+ und fehlen an den Achillessehnen. Das Schmerzempfinden (Zahnstocher) ist beidseitig ab der Unterschenkelmitte nach distal vermindert. Das Vibrationsempfinden in den Füßen und Fingern ist ebenfalls leicht herabgesetzt. Die Propriozeption ist normal. Der Patient zeigt keine Dysmetrie und keinen Tremor. Er zeigt beim einfachen Gehen eine leichte Fußheberschwäche, einen unsicheren Tandemgang sowie Schwierigkeiten beim Fersengang.
Folgende Labortests und -werte waren unauffällig:
- Großes Blutbild,
- komplettes Stoffwechselprofil,
- 2-Stunden-Glukosetoleranztest,
- Hämoglobin A1c,
- Vitamin-B12-Wert,
- HIV (human immunodeficiency virus)-Test,
- Syphilistest,
- Serumproteinelektrophorese mit Immunfixationselektrophorese,
- Anti-SSA/SSB-Antikörper,
- Blutsenkungsgeschwindigkeit,
- Rheumafaktor,
- Anti-Neutrophile zytoplasmatische Antikörper (ANCA),
- Anticardiolipin-Antikörper (ACLA),
- Anti-Myeloperoxidase-Antikörper (MPO-ANCA),
- Zöliakie-Tests,
- paraneoplastische Autoantikörper.
Der ANA-Titer (antinukleäre Antikörper) war positiv (1:320). Die Ergebnisse für die DsDNA-Antikörper, Ribosomen-Autoantikörper, Antizentromer- und Sm-Antikörper (Smith-Antikörper) waren jedoch sämtlich negativ. Die Ergebnisse der Lippenbiopsie waren normal. Eine Hautbiopsie aus der linken Wade zeigte verminderte unmyelinisierte Axone, während dieser Befund für den linken Oberschenkel normal war.
Die kraniale Magnetresonanztomografie war unauffällig. In der Elektromyografie und bei der Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeit zeigte sich eine mittelschwere bis schwere sensomotorische axonale Polyneuropathie. In der Thorax-, Abdomen- und Becken-Computertomografie fanden sich keine Anhaltspunkte für einen Tumor.
Lesen Sie im zweiten Teil des Beitrags, mit welcher Diagnose das klinische Bild im Einklang steht und wie die Ärztinnen und Ärzte den Patienten behandeln können.