
Junge (14) mit progredienten Sehstörungen – Diagnose und medizinische Hintergründe
Erfahren Sie hier im zweiten Teil des Beitrags, was die Ärztinnen und Ärzte weiter untersuchen, und was sie schließlich bei dem 17-jährigen Patienten diagnostizieren. 1
Lesedauer: ca. 3 Minuten

Das MRT mit Gadolinium zeigt keine kompressiven oder entzündlichen Läsionen. Genetische Tests auf die Lebersche hereditäre Optikusneuropathie fallen negativ aus. Die Laboruntersuchung zeigt eine persistierende Makrozytose mit normalen Ferritin-, Folat- und Vitamin-B12- Spiegeln, normaler Schilddrüsen- und Leberfunktion. Allerdings sind die Werte für Homocystein- und Methylmalonsäure erhöht, was auf einen Mangel an funktionellem Vitamin-B12 hinweist.
Patient gesteht außergewöhliches Essverhalten
Dieser Mangel an Vitamin-B12 zieht weitere Untersuchungen zur Ernährung des Patienten nach sich. Er leugnet den Konsum von Alkohol, Tabak oder Drogen – Größe und Gewicht sind mit 172,9 cm und 65,7 kg durchschnittlich, der Body-Mass-Index (BMI) ist normal (22 kg/m2). Er gesteht jedoch, seit der Grundschulzeit bestimmte Lebensmittel nicht zu essen.
Er konsumiert täglich eine Portion Pommes aus der örtlichen Fish ‘n’ Chips-Bude, Kartoffelchips, Weißbrot, verarbeitete Schinkenscheiben und Wurst. Er hat niedrige Kupfer- und Selenwerte, einen hohen Zinkspiegel, einen deutlich verringerten Vitamin-D-Spiegel und eine verringerte Knochendichte. Die Ergebnisse einer Magen-Darm-Biopsie und einer Fibroscan-Untersuchung sind unauffällig.
Das Behandlungsteam verschreibt ihm Nahrungsergänzungsmittel, welche seine Mängel ausgleichen, und überweist ihn in ein Behandlungsangebot für Essstörungen. Das Resultat: Seine Sehkraft stabilisiert sich, ohne sich jedoch zu verbessern.
Diagnose: Ernährungsbedingte Optikusneuropathie
Eine ernährungsbedingte Optikusneuropathie wird in der Regel durch Malabsorption, Drogen oder schlechte Ernährung in Verbindung mit Alkoholismus oder Rauchen verursacht. Rein ernährungsbedingte Ursachen, wie ein Mangel an Vitamin B1 (Thiamin), B2 (Riboflavin), B3 (Niacin), B6 (Pyridoxin), B9 (Folat), B12 (Cobalamin) und Kupfer, sind in den Industrieländern selten. 2,3
All diese Mängel haben wahrscheinlich zum Seh- und Hörverlust des Patienten beigetragen (Vitamin-D-Mangel trug wahrscheinlich zu seiner Osteopenie bei), blieben aber über Jahre unerkannt. Potentiell ist eine ernährungsbedingte Optikusneuropathie reversibel, wenn sie frühzeitig erkannt wird – bleibt sie hingegen unbehandelt, führt sie zu dauerhafter Erblindung.
Die Anamnese des Patienten mit behandeltem Vitamin-B12- Mangel und der niedrig-normale Vitamin-B12- Spiegel trugen womöglich zu der verzögerten Diagnose bei. Die Zuverlässigkeit des Vitamin-B12- Tests ist Proben-abhängig, wird durch Intrinsic-Factor-Antikörper beeinträchtigt und schwankt im unteren Bereich. Hier sind die Werte für Homocystein- und Methylmalonsäure empfindlichere Indikatoren für funktionellen Vitamin-B12- Mangel. 4
Vermeidende/Restriktive Störung der Nahrungsaufnahme
Junk Food ist ernährungsphysiologisch unvorteilhaft, aber energiereich und billig. Daher korreliert eine energiereiche Ernährung mit einem hohen BMI, einem niedrigen sozioökonomischem Status und schlechter Gesundheit. 5 Beschränkt sich die Ernährung ausschließlich auf Junkfood und führt sie auch noch zu mehrfachen Ernährungsdefiziten, handelt es sich um eine Essstörung.
Die vermeidende/restriktive Essstörung ist eine relativ neue diagnostische Entität, aber im Gegensatz zur Anorexia nervosa hängt sie nicht mit dem Wunsch zusammen, Gewicht zu verlieren. Sie beginnt in der mittleren Kindheit mit mangelndem Interesse am Essen, erhöhter Empfindlichkeit gegenüber der Beschaffenheit von Lebensmitteln und Angst vor den Folgen des Essens, zum Beispiel vor dem Ersticken. Eine Diagnose kann gestellt werden, wenn es zu Untergewicht kommt, das Kind nicht wie erwartet wächst, es zu manifesten Mangelerscheinungen kommt oder die psychosoziale Funktion beeinträchtigt ist. 6
Eine ernährungsbedingte Optikusneuropathie sollte daher, unabhängig vom BMI, bei jedem Patienten oder jeder Patientin mit unerklärlichen zentralen Gesichtsausfällen und schlechter Ernährung in Betracht gezogen werden.
Diese Themen könnten Sie auch interessieren: