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Der besondere Fall

24. Aug. 2023

Fallauflösung: 24-Jähriger mit Schwäche und Inkontinenz

Erfahren Sie hier im zweiten Teil der Kasuistik, welche Diagnose hinter den Symptomen des jungen Mannes steckt und wie ihm geholfen werden konnte.

Lesedauer: ca. 6 Minuten

Lachgas-Kapseln
Lachgas hat sich zu einer beliebten Droge bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen entwickelt. (Foto: © Getty Images / Adam Webb)

Autoren: Hassan Khuram, Scott Goldstein | Redaktion: Marc Fröhling

Funikuläre Myelose durch Vitamin-B12-Mangel

Der Patient in diesem Fall leidet an einer subakuten kombinierten Rückenmarksdegeneration (syn. funikuläre Myelose), die durch einen funktionellen Vitamin-B12-Mangel infolge des Freizeitkonsums von Lachgas (Distickstoffmonoxid, N2O) verursacht wurde. Das erklärt seine zunehmende subakute Schwäche, seine Taubheitsgefühle und sein Kribbeln in den Beinen sowie seine Inkontinenzbeschwerden.

Die Auswertung der Laborwerte förderte eine megaloblastäre Anämie sowie erhöhte Homocystein- und Methylmalonsäure-Werte zutage. Diese Befunde deuten darauf hin, dass die neurologischen Symptome des Patienten auf eine unzureichende Vitamin-B12-abhängige Fettsäuresynthese zurückzuführen sind, die zu einer unzureichenden Produktion und Erhaltung von Myelin führt.

Anzeichen für eine Schädigung des Rückenmarks waren die periphere Neuropathie, die autonomen Funktionsstörungen, die Parästhesien und die spinale Ataxie bei einem jungen Patienten mit recht unauffälliger Familienanamnese. Die neurologischen Symptome in Verbindung mit den Laborergebnissen wiesen auf einen Vitaminmangel hin. Ein Mangel an Thiamin, Vitamin E und Folsäure kann zu ähnlichen Symptomen führen. Normale Serumwerte schlossen jedoch einen Thiamin- und Vitamin E-Mangel aus und erhöhte Methylmalonatwerte den Folsäuremangel.

Obwohl bei der multiplen Sklerose ein ähnliches Erscheinungsbild möglich ist, machen das Geschlecht und das Alter des Patienten diese Diagnose weniger wahrscheinlich, sodass ein Vitamin-B12-Mangel die wahrscheinlichere Erklärung ist. Das anschließende axiale T2-gewichtete MRT der HWS zeigte eine erhöhte Signalabschwächung im Hinterstrang des Rückenmarks. Im peripheren Blutausstrich fanden sich hypersegmentierte neutrophile Granulozyten (s. Abb. 2). Im EMG zeigt sich eine längenabhängige sensomotorische Polyneuropathie ohne wesentliche demyelinisierende Elemente.

Hypersegmentierte neutrophile Granulozyten im peripheren Blutausstrich
Abb. 2: Hypersegmentierte neutrophile Granulozyten im peripheren Blutausstrich
Hypersegmentierte neutrophile Granulozyten im peripheren Blutausstrich
Abb. 2: Hypersegmentierte neutrophile Granulozyten im peripheren Blutausstrich

Lachgas als Droge: Die Hintergründe

In der letzten Dekade hat sich laut der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen Lachgas, auch bekannt als „Whippets“ oder „Hippy Crack“, zu einer beliebten Droge für Jugendliche und junge Erwachsene entwickelt. Bei einer Umfrage unter den jungen Besuchern eines Musikfestivals in Irland gaben 28% an, das Gas mindestens 1-mal im zurückliegenden Jahr inhaliert zu haben. Lachgas wird heute noch bei zahnärztlichen Eingriffen sowie u.a. als Treibgas verwendet. Es hat sich aber auch zu einer immer beliebteren Partydroge entwickelt.2,3

Die beliebteste Darreichungsform ist das Inhalieren durch einen Ballon, was zu kurzzeitigen Halluzinationen, Wohlempfinden, Euphorie und Angstlösung führt, aber ein Missbrauchs- und/oder Suchtpotenzial mit sich bringt.2,4 Da die Wirkung nur 30 Sekunden bis 3 Minuten anhält, inhalieren Konsumenten häufig mehrere Runden hintereinander, um das euphorische Gefühl aufrechtzuerhalten.5 Aufgrund der leichten Verfügbarkeit, der geringen Kosten und der euphorisierenden Wirkung von Distickstoffmonoxid sowie der irrtümlichen Annahme, dass die schädlichen Auswirkungen begrenzt seien, rechnen Experten mit einer Zunahme des Freizeitkonsums.2

Bei einer akuten Intoxikation kann es zu Schwindel, Verwirrtheit, Nystagmus und Gangunsicherheit kommen. Neurologen gehen davon aus, dass diese Symptome auf die höhere Wasserlöslichkeit von Lachgas im Vergleich zu Sauerstoff zurückzuführen sind. Distickstoffmonoxid gelangt schneller als Sauerstoff durch die Lungenbläschen in den Blutkreislauf. Dies führt zu einer Sauerstoffunterversorgung des Gehirns.

Während gesunde Menschen diese Form der Hypoxie in einem gut belüfteten Raum meist tolerieren, kann es bei Menschen mit Herzerkrankungen, Epilepsie oder anderen Begleiterkrankungen zu Herzrhythmusstörungen, Krampfanfällen oder sogar Herz- und Atemnot kommen.6 Bei einer Langzeitanwendung von Lachgas kann das Nervensystem durch den Vitamin-B12-Mangel geschädigt werden,2,5,7,8 was zu den klassischen Symptomen führt, die auch bei diesem Patienten beobachtet werden konnten.

Vitamin-B12-Mangel durch Lachgas: Genauer Mechanismus unbekannt

Der genaue Mechanismus, über den Lachgas zu einem Vitamin-B12-Mangel führt, ist nach wie vor unbekannt, aber es werden verschiedene Hypothesen diskutiert. Vitamin B12 ist ein wasserlöslicher Cofaktor für mehrere enzymatische Reaktionen. Das Molekül wird bei der DNA-Synthese und beim Stoffwechsel ungeradkettiger Fettsäuren benötigt.9

Nach einer der favorisierten Theorien führt eine längere Zufuhr von Lachgas zu einer permanenten Oxidation der Kobaltionen im Vitamin B12, was eine Funktionsstörung der Methylmalonyl-CoA-Mutase nach sich zieht. Dies mündet schließlich in eine gestörte Myelinisierung des zentralen und peripheren Nervensystems.7

Klinisch kann sich die gestörte Myelinisierung als Myeloneuropathie, subakute kombinierte Degeneration, periphere Neuropathie oder auch als Myelopathie manifestieren,2,5,8wobei die subakute kombinierte Degeneration am häufigsten auftritt.2Pathogenetisch kommt es zu einer Demyelinisierung der Hinterstrangbahnen, des Tractus spinocerebellaris und des Tractus corticospinalis lateralis.10 Parästhesien und der Verlust von Vibrationsempfindung und Propriozeption sind auf die Demyelinisierungen im Hinterstrang zurückzuführen. Spastische Paresen können auf eine Demyelinisierung des Tractus corticospinalis lateralis zurückzuführen sein. Gangstörungen werden hingegen durch Schädigungen des Tractus spinocerebellaris und der Hinterstrangbahnen verursacht.10

Großes Blutbild kann Hinweise auf Lachgasabusus liefern

Bei Verdacht auf einen Lachgasabusus sind Labortests, die explizit auf den Lachgasgehalt abzielen, unzureichend, da das Gas zu schnell abgebaut wird.10 Ein großes Blutbild hingegen kann verschiedene indirekte Hinweise auf einen Lachgasabusus bieten, wenn etwa eine megaloblastäre Anämie vorliegt.

Allerdings ist der Vitamin-B12-Spiegel auch bei über 70% der Personen mit einem anamnestischen Lachgasmissbrauch normal.5,8,10 Daher sollten die Spiegel von Methylmalonsäure und Homocystein bestimmt werden, da es sich dabei um empfindlichere Marker des Vitamin-B12-Status bei Personen handelt, die Lachgas verwenden.2

Neben Laborwerten können auch bildgebende Verfahren diagnostische Hinweise liefern und dabei helfen, das Ausmaß der Rückenmarkschädigung zu bestimmen. CT-Aufnahmen sind möglicherweise nicht sensitiv genug, um Anomalien zu erkennen, sodass ein MRT angeordnet werden sollte, um das Ausmaß der Schädigung zu bestätigen und andere Differenzialdiagnosen wie z.B. eine multiple Sklerose auszuschließen.11

In einem systematischen Review wurden Hyperintensitäten in T2-gewichteten Bildern des Rückenmarks bei 68% der Personen mit Lachgasvergiftung gefunden.11 Die Anomalien betreffen in der Regel mindestens 3 Spinalsegmente, wobei das zervikale Rückenmark am häufigsten in Mitleidenschaft gezogen wird.2

Bei Erwachsenen sind häufiger die oberen thorakalen Ebenen betroffen.11Im EMG stellt sich eine Mischung aus axonaler und demyelinisierender Neuropathie dar, und zwar am häufigsten in den unteren Extremitäten.2,5

Therapie: Unterbrechung der Lachgaszufuhr und Vitamin-B12-Gabe

Zu den wichtigsten Therapiemaßnahmen gehören die sofortige Unterbrechung der Lachgaszufuhr und die Vitamin-B12-Gabe.2,5,7,8 Derzeit gibt es jedoch keine standardisierten Leitlinien, und in der Literatur werden verschiedene Therapieformen beschrieben.

Ein Therapieschema sieht die tägliche i.a.-Injektion von 1.000 µg Vitamin B12 für 1 Woche vor, gefolgt von wöchentlichen Injektionen für 4-8 Wochen. Im Anschluss sind monatliche Injektione ausreichend.2,5 Es wurde jedoch auch gezeigt, dass eine hochdosierte orale Zufuhr (1.000-2.000 µg) ähnlich wirksam ist.12

Wenn eine Vitamin-B12-Supplementierung klinische Symptome nicht zu lindern vermag, sind die Gabe von Methionin und Methylprednisolon per os mögliche wirksame Alternativen.13,14 Unter der Therapie bilden sich die meisten neurologischen Symptome und alle Läsionen in der Bildgebung vollständig zurück.

Der Patient im vorliegenden Fall wird stationär aufgenommen. Er bekommt täglich Vitamin-B12-Injektionen i.m. sowie Physiotherapie. Ab dem 7. Tag bessern sich seine neurologischen Funktionen deutlich. Nachdem sich auch die Homocystein- und Methylmalonatwerte normalisieren, entlassen ihn die Ärzte. Zu dem Zeitpunkt sind in den unteren Extremitäten immer noch Parästhesien und Schwäche vorhanden.

Sein Behandlungsplan sieht eine ambulante Nachsorge mit Ergotherapie, oraler Vitamin-B12-Supplementierung (1.000 µg) und den Verzicht auf Lachgas vor.

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Dieser Beitrag ist im Original auf Medscape.com erschienen.

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