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Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin

24. Apr. 2023

Differenzialdiagnose unklarer Beinschwellung

Lipödem oder Adipositas? Lymphödem oder Lipödem? Primär oder sekundär? Dr. Katja Sibylle Mühlberg (Leipzig) gibt Tipps für die Differenzialdiagnose unklarer, nicht-thrombotischer Beinschwellungen.

Lesedauer: ca. 6 Minuten

Geschwollene Beine
Ursachen für geschwollene Beine und Füße sind vielfältig. Symbolbild (Foto: Getty Images / Toa55 / iStock)

Dieser Beitrag basiert auf dem Vortrag von Dr. med. Katja Sibylle Mühlberg (Leipzig) „Differentialdiagnose der unklaren (nichtthrombotischen) Beinschwellung“ auf dem DGIM 2023. | Autorin: Dr. Linda Fischer

Für Lipödeme gibt es folgende objektivierbare Kriterien, weiß Dr. med. Katja Sibylle Mühlberg, Fachärztin für Innere Medizin und Angiologie und Oberärztin am Universitätsklinikum Leipzig:

  • dysproportionale symmetrische Fettgewebsvermehrung zwischen Körperstamm und Extremitäten
  • Schmerzen im Fettgewebe in betroffener Extremität
  • Stamm, Hände und Füße sind ausgespart
  • Hämatom-Neigung (in Fachkreisen umstritten)

Generell rät Mühlberg Ärztinnen und Ärzten, sich nicht nur die Beine der Patientinnen und Patienten anzuschauen und merkt an, dass Cellulite kein Diagnosekriterium des Lipödems darstellt.

Lipödem oder Adipositas? Demaskieren mit Ernährung und Sport

Kernfrage im klinischen Alltag ist häufig: Ist es Adipositas oder ein Lipödem? Oder beides? Weltweit liegt bei 75–80 % der betroffenen Frauen eine Koinzidenz vor. Das resultierende Problem: Das wichtigste Diagnosekriterium, die Proportion, ist durch die Bauchumfangsvermehrung maskiert.

Mühlberg empfiehlt hier, durch entsprechende Ernährung und Sport das Gewicht zu normalisieren, um dann ein ggf. vorliegendes Lipödem identifizieren zu können. Sport und Ernährung seien generell die wichtigsten und ersten basalen Therapiemaßnahmen, die Patientinnen und Patienten mit Lipödem jeglichen Stadiums angehen sollten.

Body-Mass-Index als Kriterium für Liposuktion sinnlos

Aktuell orientiert sich die Kostenübernahme einer Liposuktion am Body-Mass-Index (BMI), obwohl sich dieser bekanntermaßen nicht dazu eignet, adipöse Menschen herauszufiltern, da die Fettverteilung nicht einbezogen wird, kommentiert Mühlberg. Dies kann das Schicksal Lipödem-Betroffener bestimmen: Beispielsweise würde eine nicht adipöse Lipödem-Patientin mit BMI 43 kg/m2 keine Liposuktion erhalten, da bei einem BMI > 35 kg/m2 zunächst die Adipositas behandelt werden muss. Da die Patientin allerdings nicht adipös ist, würden Ernährung und Sport vermutlich keine BMI-Reduktion bewirken, so Mühlberg. Das sei ungerecht und bedauerlich.

Waist-to-Height-Ratio (WtHR) zuverlässiger

In neueren Studien wird daher die WtHR proklamiert, da sie die Fettverteilung mit einbezieht: Bauchumfang dividiert durch Körpergröße. Mit diesem Instrument können Menschen mit Adipositas und Menschen mit reinem Lipödem differenziert werden. Faustregel:

  • Ergebnis ≤ 0,5 normal
  • Ergebnis > 0,53 = Adipositas

Ab dem 40 Lebensjahr wird pro Lebensjahr für die Adipositas-Grenze 0,01 dazu addiert.

Lymphödem oder Lipödem? Ein Blick auf die Füße

Um zwischen Lymphödem und Lipödem zu differenzieren lohnt sich ein Blick auf die Füße: Beim Lipödem sind Füße und Knöchel immer schlank, wohingegen beim Lymphödem häufig der Vorfuß balloniert und die Knöchel geschwollen sind. Weitere Zeichen für ein Lymphödem umfassen Stemmer-Zeichen, Kastenzehen und Querfältelung der Zehen.

Lymphödem: Primär oder sekundär?

Zwischen primärem und sekundärem Lymphödem zu unterscheiden ist nicht immer einfach, wie der Fall eines 19-jährigen Mannes zeigt, der mit 10 Jahren ein Torsionstrauma im Schulsport mit Mittelfuß-Stressfraktur (Knochenödem) erfuhr. Er wurde damals konservativ (Softcast) versorgt und war nach 4 Wochen ausgeheilt. 2 Jahre später – im Alter von 12 Jahren – traten plötzlich Schwellungen in demselben Fuß auf. Seitdem bekommt er komplexe physikalische Entstauungstherapie mit manueller Lymphdrainage. Bei seiner Vorstellung in der Klinik mit 19 Jahren befindet er sich in Stadium 2 eines Lymphödems.

Antwort: Der Patient leidet unter einem ...

Der Patient leidet unter einem Lymphoedema praecox – einem primären Lymphödem. Definiert ist dieses Ödem über einen Ausbruch vor dem 35. Lebensjahr. Eine Erstmanifestation in einem Alter > 35 Jahre wird als Lymphoedema tardum bezeichnet.

Primäre und damit angeborene Lymphödeme können jahrelang im Stadium 0 verharren und sind klinisch unauffällig. Ärztinnen und Ärzte können sie lediglich über eine Lymphszintigrafie identifizieren.

Der Übergang von Stadium 0 in die Stadien I und II kann schleichend passieren. Erster Hinweis können eine Schuhlängendifferenz v.a. im Kindesalter oder Wärmeödeme sein. Der Demaskierungszeitpunkt liegt häufig in der Pubertät, die Latenzphase ist höchst individuell und abhängig von dem Ausmaß der Fehlbildung und Lymphlast. Durch Bagatelltraumata (Torsion) kann es auch zu einem schlagartigen Sprung in Stadium II kommen.

Sekundäre Lymphödeme sind erworben, z. B. durch Tumorerkrankungen, operative Verfahren, Radiation, Verletzung oder entzündliche Prozesse. Auch durchtrennte oder zerstörte Lymphbahnen („größere“ Weichteildefekte) nennt Mühlberg.

Ihr Tipp bei der Differenzierung zwischen primärem und sekundärem Lymphödem:

  • Liegt ein größerer Weichteilschaden vor (Lymphgefäße kaputt bzw. beeinträchtigt), ist von einem sekundären Lymphödem auszugehen.
  • Handelt es sich um Bagatellen ohne innerliche Narbenbildungen, liegt ein primäres Lymphödem vor.

Einseitige, neu aufgetretene Lymphödeme sollten Ärztinnen und Ärzte dazu veranlassen, nach einem Tumor zu suchen. Zu bedenken sei zudem, dass eine Erstmanifestation auch erst Jahre nach einer Operation, einer Verletzung oder Tumorerkrankung auftreten kann, erinnert Mühlberg.

Patientinnen und Patienten auch mal von hinten begutachten

Die Fachärztin empfiehlt für nicht ganz eindeutige Lymphödem-Fälle, Patientinnen und Patienten auch von hinten in stehender Position zu begutachten, mit Fokus auf die Region der Achillessehne. Hier ließe sich schon früh und einfach erkennen, ob eine Schwellung vorliegt.

Gerade nach abdominalen operativen Eingriffen, die Lymphgefäße durchtrennen, kann sich das Lymphödem von oben nach unten arbeiten, weiß Mühlberg. Hier gelte es, entsprechend zu erfragen. Typisch sei z. B. eine an nur einem Oberschenkelbereich straff sitzende Hose, bevor Stemmer-Zeichen oder ballonierte Fußrücken vorliegen. Sie empfiehlt, die Haut an beiden Oberschenkeln zu vergleichen (Haut fälteln, Hautturgor vergleichen).

Schwellung heißt nicht automatisch Ödem

Eine unklare Beinschwellung muss aber nicht immer auf ein Ödem zurückzuführen sein! Weitere Ursachen:

  • Myxödem: Proteoglykaneinlagerung
  • Hämatom
  • Bakerzyste

Herangehensweise zur Ursachenfindung der Beinschwellung

Mühlberg empfiehlt ein systematisches Vorgehen für die Differenzierung zwischen Ursachen der Beinschwellung (Tab. 1).

Differenzierung nach AuftretenDifferenzierung nach SchmerzDifferenzierung nach Lokalisation
-akut
-chronisch
-rezidivierend
-zyklisch
-ja
-nein
-generalisiert
-beide Beine
-symmetrisch
-einseitig
-lokal umschrieben
Tab. 1: Differenzierung zwischen Ursachen der Beinschwellung abhängig von Auftreten, Schmerz und Lokalisation

Mühlbergs Faustregel bei der Differenzierung nach Lokalisation: Generalisierte Ödeme haben eher systemische Ursachen und einseitige oder umschriebene Ödeme eher lokale Ursachen.

  • CAVE: systemische und lokale Ursachen können auch zusammen auftreten! Daher gilt es, systemische Ursachen immer auszuschließen.

Wichtige und häufige Ursachen für Ödeme liegen oft in Herz, Niere, Leber oder sind assoziiert mit Eiweißmangel, der Schilddrüse, Adipositas und Medikamenten. Eine gezielte Anamnese, klinische Untersuchung und Labordiagnostik können bei der Identifizierung helfen.

Kardial bedingte Ödeme präsentieren sich vielfältig und können ...

Kardial bedingte Ödeme präsentieren sich vielfältig und können einem Lymphödem oder einer chronisch venösen Insuffizienz ähneln. Neben den Beinen sei auf obere Einflussstauung, Jugularvene, Lippenzyanose und Anasarka zu achten, so Mühlberg. Es gelte, Patientinnen und Patienten nach Belastungsdyspnoe, Angina pectoris, koronarer Herzkrankheit, dilatativer Kardiomyopathie und Nykturie zu befragen. Ein wichtiger Laborparameter sei Pro-BNP und auch eine transthorakale Echokardiografie und Elektrokardiogramm könne weiterhelfen.

Renal bedingte Ödeme können sich von außen betrachtet ...

Renal bedingte Ödeme können sich von außen betrachtet genauso präsentieren wie kardial bedingte Ödeme. Ein typisches Zeichen sind periorbitale Ödeme, unmittelbar nach dem Aufstehen. Ärztinnen und Ärzte sollten gezielt danach fragen. Die Labordiagnostik umfasst Kreatinin, Haptin-Schwellen-Test, glomeruläre Filtrationsrate und Proteinurie.

Hepatogene Ödeme sind manchmal weniger eindrücklich ...

Hepatogene Ödeme sind manchmal weniger eindrücklich an den Beinen. Mühlberg nennt hier stattdessen Aszites als hinweisgebend. Es gelte zudem, auf Leberhautzeichen zu achten, wie Teleangiektasien und Palmarerythem. Labordiagnostik umfasst Alanin-Aminotransferase, Aspartat-Aminotransferase, Cholinesterase und Quick-Wert.

Eiweißmangel-Ödeme zeigen sich exakt wie hepatogene ...

Eiweißmangel-Ödeme zeigen sich exakt wie hepatogene Ödeme. Zur Differenzierung hilft laut Mühlberg eine Labordiagnostik mit Eiweiß-Elektrophorese und Albumin. Es gelte aber auch, auf die Gesamtkonstitution des Menschen zu achten, z. B. hinsichtlich Eiweißmangel, Hunger und kachektisch bedingter Ödeme.

Myxödeme (Schilddrüse) können imponieren wie ein ...

Myxödeme (Schilddrüse) können imponieren wie ein Lymphödem. Mühlberg beschreibt die Haut als derbe und fest, kleine papillomatöse Veränderungen sind möglich. Die Haut ist insgesamt sehr trocken, rau und auch induriertes Gewebe kann vorliegen. Die Labordiagnostik umfasst Thyreoidea-stimulierendes Hormon, Freies Trijodthyronin 3/4, Thyreotropin-Rezeptor-(Auto)antikörper, Thyreoperoxidase-Antikörper und Antikörper gegen Thyreoglobulin.

Adipositas ist eine der häufigsten Gründe sekundärer ...

Adipositas ist eine der häufigsten Gründe sekundärer Lymphödeme. Ab einem BMI von 40 kg/m2 steigt das Risiko für Lymphome drastisch. Hier gilt es, den Bauchumfang zu messen und die WHtR zu erfassen. Erfreulicherweise ist aber laut Mühlberg das adipositas-assoziierte Lymphödem komplett heilbar, wenn Betroffene ihr Gewicht normalisieren.

Die im klinischen Alltag relevanten medikamentös induzierten Ödeme ...

Die im klinischen Alltag relevanten medikamentös induzierten Ödeme werden zumeist ausgelöst durch:

  • Kalziumantagonisten
  • Steroide/Predisolon
  • Glitazone
  • Hormone (Pille, Testosteron)
  • Nichtsteroidale Antirheumatika
  • Diuretika
  • Psychopharmaka
  • Methyldopa

Ein Blick auf die Medikamentenliste lohnt sich also, so Mühlberg. Im Labor können Osmolarität/Elektrolyte im Serum und Urin bestimmt werden.

Quellen anzeigen
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