Angehörigenpräsenz bei der Reanimation - Pro
Sollte man Familienangehörige bei der Reanimation von Patienten beiwohnen lassen? Über das Für und Wider referierten Prof. Dr. Christiane Hartog und Prof. Dr. Martin Möckel in einem Pro- und Kontra-Format kürzlich auf dem Jahreskongress der Internisten.
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Der folgende Beitrag basiert auf zwei Vorträgen zum Thema „Anwesenheit von Angehörigen bei der Reanimation“ auf dem 129. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e.V. | Redaktion: Dr. Nina Mörsch
Pro Anwesenheit
Ob Angehörige während der Reanimation anwesend sein sollten, steht schon seit den 1980er Jahren zur Diskussion. Tatsächlich habe die Präsenz von nahestehenden Personen bereits 2000 Eingang in Empfehlungen einiger Fachgesellschaften gefunden, erklärte Prof. Dr. Christiane Hartog von der Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin an der Charité in Berlin, die die Pro-Seite in dieser Sitzung vertrat.
So berichten Angehörige, die eine miterlebte Reanimation als positiv wahrgenommen haben, dass ihnen das Erlebte bei der Trauerarbeit, beim Coping und beim Abschied nehmen geholfen habe. Außerdem würden Familienmitglieder sich selbst häufig als Hilfe und Unterstützung für die betroffenen Patienten verstehen. Sie fungieren in dieser Rolle
- als Experten, die für die Behandlung wichtige Informationen liefern,
- als Stellvertreter im juristischen Sinne, die den mutmaßlichen Willen des Betroffenen kennen und Entscheidungen hinsichtlich des Vorgehens erleichtern, sowie
- als Beistand für Patienten.
Auf der anderen Seite könne ein solch extremes Erlebnis aber auch posttraumatischen Stress auslösen, den Trauerprozess verlängern oder zu Depressionen führen, erzählt die Ärztin, die selbst in der Versorgungsforschung tätig ist.
Ambivalenz im medizinischen Team
Seitens des medizinischen Teams bestehen Befürchtungen, wonach anwesende Angehörige die Versorgung des Patienten beeinträchtigen und so zu Fehlern führen können – im schlimmsten Fall mit juristischen Konsequenzen. „Im Team selbst nimmt man häufig Ambivalenz wahr“, weiß die Allgemeinmedizinerin. So bejahe laut einer Umfrage ein Großteil des medizinischen Personals der Befragten zwar ein moralisches Recht auf Anwesenheit.
Gleichzeitig gelten Anwesende aber auch als Störfaktor, betont sie und erklärt: „Sie halten uns einen Spiegel gegenüber unserer Verantwortlichkeit vor.“ Die Verantwortung beziehe sich vor allem auf die Entscheidungsfindung, also auf denjenigen, der die medizinischen Entscheidungen trifft. Entgegen dem heutigen Paradigma des „shared-decision-making“ sei „noch sehr viel Paternalismus im System“. Jemand, der dies beobachte und darauf aufmerksam mache, störe, so ihre These.
Wie ist die Studienlage?
Eine Meta-Analyse aus dem Jahr 2015 von Oczkowski et al. legt nahe, dass sich die Präsenz von Familienangehörigen während einer Reanimation weder auf die präklinische Sterblichkeit der Patienten noch auf die Dauer der Reanimation negativ auswirkt. Die Daten sprechen vielmehr dafür, dass das Beisein sogar Ängstlichkeit und Depression bei den Angehörigen reduzieren kann. Die Autorinnen und Autoren der Meta-Analyse weisen allerdings auch auf die niedrige Evidenz der Studiendaten hin. 3
Eine der zugrundeliegenden Studien wurde 2013 von Jabre et al. veröffentlicht.4 Sie umfasste 15 französische Rettungsteams, von denen acht die Interventionsgruppe und sieben die Kontrollgruppe bildeten.
Intervention: Anwesenheit plus strukturierte Betreuung
In der Interventionsgruppe wurden Familienangehörige (n=266) befragt, der Reanimation beizuwohnen. Anschließend wurden sie strukturiert betreut.
Details der strukturierten Betreuung
Den Teilnehmenden der Interventionsgruppe wurde ein Mitglied des medizinischen Teams zur Seite gestellt, das vor der Reanimation ausführlich beschrieben hatte, wie der Patient aussieht (unbekleidet, Farbe der Haut) und welche Maßnahmen ergriffen wurden.
Zudem betonte der Betreuende, dass alles Bestmögliche für den Patienten getan wird. Bevor die Angehörigen den Ort der Wiederbelebung betraten, wurde sichergestellt, dass die unangenehmsten Maßnahmen bereits durchgeführt worden waren.
Während der Reanimation war es Aufgabe des Beistands, das medizinische Team vorzustellen, die Schritte der Wiederbelebung zu erklären, Fragen zu beantworten und Trost zu spenden. Für die Zeit nach der Reanimation, die in den allermeisten Fällen nicht erfolgreich war, stand die betreuende Person den Angehörigen weiter empathisch zur Seite, wies auf mögliche Trauerreaktionen hin und fing aufkommende Schuldgefühle der Angehörigen ab. Ebenso wurde den Verwandten psychologische Unterstützung angeboten.
Dieses strukturierte Betreuungsangebot lobte die Referentin ausdrücklich: „Das ist Angehörigen-zentrierte Begleitung. Das ist ein Fahrplan dafür, wie man Angehörige während solcher Maßnahmen unterstützt“.
Kontrollgruppe: Anwesenheit nur auf ausdrücklichen Wunsch
Die Teams der Kontrollgruppe ließen eine Anwesenheit nur auf ausdrücklichen Wunsch der Angehörigen zu (n=304).
Primärer Endpunkt der Studie waren Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) bei den Angehörigen am Tag 90.
Ergebnisse: In der Interventionsgruppe waren 211 von 266 (79 %), in der Kontrollgruppe 131 von 304 Angehörigen (43 %) bei Wiederbelebungsmaßnahmen dabei. PTBS traten in der Kontrollgruppe signifikant häufiger auf als in der Interventionsgruppe (adjustierte Odds Ratio [aOR] 1,7; p = 0,004). Überdies waren PTBS-Symptome bei Angehörigen häufiger, die die Wiederbelebungsmaßnahmen nicht sahen, im Vergleich zu denjenigen, die sie direkt verfolgten – aber nicht betreut wurden (aOR 1,6; p = 0,02). Außerdem entwickelten Zeugen der Reanimation seltener Angst und Depression.
„Meiner Meinung nach, sind die verringerten PTBS-Symptome in der Interventionsgruppe auf den starken Einfluss der Angehörigen-zentrierten-Betreuung zurückzuführen“, kommentiert die Referentin die Ergebnisse.
Medizinisches Team vom Beisein unbeeinflusst
Der Studie zufolge blieb außerdem sowohl der medizinische Ablauf als auch der Erfolg der Wiederbelebung vom Beisein der Angehörigen unbeeinflusst. Dasselbe galt für das Stressniveau des Reanimationteams.
„Angehörigen sollte es natürlich angeboten werden, bei der Reanimation anwesend zu sein, sofern dies im Rahmen einer strukturierten Begleitung stattfindet", resümiert Prof. Hartog.
Doch es gibt auch kritische Stimmen, so wie Prof. Dr. Martin Möckel, Ärztlicher Leiter der Notfall- und Akutmedizin, Zentrale Notaufnahmen und Chest Pain Units Campus Charité Mitte und Campus Virchow-Klinikum: Erfahren Sie im zweiten Teil des Beitrags, weshalb er die Anwesenheit von Angehörigen während einer Reanimation kategorisch ablehnt.