„Ich wünsche mir einen unaufgeregten wissenschaftlichen Umgang“
Im Frühjahr 2021 wurde an der Universitätsklink Marburg eine der ersten Post-Covid- und Post-Vax-Spezialambulanzen ins Leben gerufen. Wir haben mit dem ärztlichen Leiter Professor Bernhard Schieffer über die beiden Krankheitsentitäten gesprochen.
Lesedauer: ca. 4 Minuten
Dieses Video wurde auf dem 130. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e.V. aufgezeichnet | Redaktion: Marina Urbanietz, Video: Claudiu Grozea und Thomas Feist
Das Videointerview zum Nachlesen
Die Post-Covid / Post-Vax-Spezialsprechstunde am Universitätsklinikum Gießen und Marburg war eins der ersten Angebote dieser Art in Deutschland. Wie entstand diese Idee?
Sie treffen auf Patienten, die Ihnen völlig unklar sind. Mit einer gewissen Neugier und einem medizinischen Interesse treten Sie diesen Patienten gegenüber und denken: „Was ist es, was sie einzigartig macht? Was haben ihre Symptome mit anderen Erkrankungsentitäten gemeinsam?“
Wir sehen viele Patienten, die nach Aufenthalten auf einer Intensivstation schwer erkrankt sind. Sie haben eine bestimmte Symptomatik, die wir schon sehr lange kennen. Wir kennen auch Patienten, die sich nach einer Virusinfektion erst langsam regenerieren. Das ist das sogenannte „Postinfektionssyndrom“, unter dem wir heute all diese Patienten zusammenfassen, also auch die Patienten mit Post-Covid- und Post-Vax-Syndrom.
Und dann haben Sie eine Patientengruppe, die plötzlich mit den gleichen Symptomen wie nach einer Infektion auftaucht, aber die offensichtlich keine Exposition hatte, jedoch gegen SARS-CoV-2 geimpft wurde. Das ist der historische Rückblick über die unterschiedlichen Patientengruppen und warum wir sie uns angeschaut haben.
Wie viele Patientinnen und Patienten sind von Post-Covid- und Post-Vax-Syndrom betroffen?
Aktuell sind nach Schätzungen ungefähr 3 bis 3,5 Millionen Patienten von Post-Covid-Syndrom betroffen. Beim Post-Vakzinierungs-Syndrom ist die Zahl der Betroffenen wesentlich schwieriger zu identifizieren, weil die Dunkelziffer hoch ist. Wir gehen von ungefähr 0,02 bis 0,03 % aller geimpften Menschen aus.
Welche Pathophysiologie haben die beiden Erkrankungen?
Die Pathophysiologie, die den beiden Erkrankungsentitäten mit einem sehr hohen Überlappungspotenzial zugrunde liegt, ist letztlich das Spike-Protein mit all seinen wirklich desaströsen Auswirkungen auf unterschiedliche Organsysteme und auch der Kompetenz, sich mit Proteinen zu verkleben und damit auch in Nischen zu verstecken.
Mit welchen Symptomen kommen Patientinnen und Patienten in Ihre Spezialsprechstunde?
Die Symptomatik, mit der sich Patienten bei uns vorstellen, sind in der Mehrzahl Leistungsunfähigkeit, Fatigue und Nervenschmerzen. Diese Symptome stehen im Vordergrund. Wobei wir bei uns am UKGM in Marburg parallele Ambulanzen haben, wo z.B. Patienten gesehen werden, die schwere Lungenveränderungen nach intensivmedizinischen Aufenthalten haben. Zudem haben wir spezielle Ambulanzen für Kinder und für neuropsychiatrische Störungen. Das heißt, bei uns haben wir schon eine gewisse Selektion.
Welche Risikofaktoren sind aktuell bekannt?
Dazu muss man vorwegstellen: Wer sind die Menschen, die vor allem betroffen sind? Das sind junge Frauen, im Berufsleben stehend, sportlich, körperlich aktiv. Sie sind besonders oft betroffen. Warum ist das so? Das wissen wir nicht. Wir sehen dies sowohl in der Literatur als auch bei uns durch viele Patientinnen und Patienten, die wir gescreent haben.
Was wir aber an Clustern finden, sind vor allem begleitende Virusinfektionen, die noch nicht abgeheilt waren, beispielsweise eine EBV-Infektion, aber auch Influenza-Infektionen, in die damals „hinein geimpft“ wurde. Auch chronisch-entzündliche Erkrankungen, die noch nicht erkannt wurden, gehören dazu. Solche Patientinnen und Patienten machen uns Sorgen.
Wie kommen Patientinnen und Patienten in Ihre Spezialsprechstunde?
Im Moment läuft dies über die Zuweisung durch Haus- und Facharzt. Häufig überweisen die Internisten, die vom Hausarzt den Patienten bekommen, die Erkrankungsentitäten eingrenzen und sagen: „Hier gibt es ein Post-Covid-Syndrom, hier muss eine ausführliche Diagnostik und möglicherweise auch Therapie eingeleitet werden." So kommen die meisten Patientinnen und Patienten zu uns.
Wie kann man Ihre Arbeit unterstützen? Was sind derzeit Ihre größten Herausforderungen?
Mein größter Wunsch an Kollegen und auch an Medien ist, dass wir weiterhin den unaufgeregten, wissenschaftlich korrekten Weg in der Auseinandersetzung und der Behandlung von Post-Covid-Syndrom oder übergeordnet von postinfektiösen Erkrankungen wählen.
Mein Wunsch an die Politik und auch an die Verantwortlichen, die im Gesundheitswesen für die Finanzierung zuständig sind, ist, dass wir Innovationen im Sinne von Postinfektionszentren, die in den nächsten zehn Jahren die sogenannte „Pandemic Preparedness“ generieren sollen, etablieren. So können wir unsere Gesellschaft auf zukünftige Erkrankungsentitäten vorbereiten. Das wäre der Wunsch auf Landes- und Bundesebene, dass hier eine Investition in die Zukunft getätigt wird, die es uns ermöglicht, transdisziplinäre Ansätze zu finden, wie wir sie jetzt im tradierten System der Medizin mühsam herausarbeiten müssen.
Crowd-Funding-Kampagne für Long-Covid-Forschung
Für Patientinnen und Patienten gibt es über die Homepage des Universitätsklinikums Gießen-Marburg erreichbare E-Mail-Adressen und Hotlines für die Post-Covid-Ambulanz der Kardiologie.
Wenn Sie die Post-Covid-Forschung am Herzzentrum des Universitätsklinikums Marburg unterstützen möchten, können Sie gerne das folgende Konto nutzen:
Konto Nr.: 555 444 bei der Sparkasse Marburg-Biedenkopf, BLZ: 533 500 00
IBAN: DE24 5335 0000 0000 5554 44
Förderverein des universitären Herzzentrums Marburg e.V.
Verwendungszweck bitte angeben: Spende Post-Covid-Forschung
Zur Person:
Prof. Dr. med. Bernhard Schieffer ist Direktor der Klinik für Kardiologie, Angiologie und internistische Intensivmedizin am Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM). Seit 2021 leitet er die Post-Covid- / Post-Vax-Spezialambulanz am UKGM.
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