
Multimedikation im Praxisalltag besser managen
Wie können wir mit den Herausforderungen der Multimedikation besser umgehen und die Lebensqualität von Betroffenen erhöhen? Prof. Dr. med. Elke Roeb, die an der S2k-Leitlinie Multimedikation mitwirkt, gibt hilfreiche Tipps für die Erstellung und Prüfung von Medikationsplänen.
Lesedauer: ca. 4 Minuten

Der folgende Beitrag basiert auf dem Vortrag „Multimedikation“ von Prof. Dr. med. Elke Roeb, Justus-Liebig-Universität Gießen auf dem 129. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e.V. | Redaktion: Nathalie Haidlauf
Nehmen Menschen fünf oder mehr Medikamente ein, sprechen wir von Multimedikation. Und das ist kein Randphänomen: In Deutschland nehmen rund 14 % der Patientinnen und Patienten, die im kassenärztlichen System geführt werden, fünf oder mehr Wirkstoffe ein. 7 % nehmen sieben oder mehr und immerhin noch 2 % mehr als zehn Wirkstoffe ein.
Welche Erkrankungen führen zu Multimedikation?
Multimedikation ist im Wesentlichen auf einige wenige Krankheiten zurückzuführen. Allen voran ist es die koronare Herzerkrankung, die zu vielen Verschreibungen führt. Über 81 % der Erkrankten erhalten fünf oder mehr Präparate. 23 % der Betroffenen erhalten sogar 10 oder mehr Dauermedikamente. Aber auch Erkrankungen wie Demenz, Typ-2-Diabetes, COPD oder Osteoporose sind häufig Ursache für Multimedikation.
Gerade bei älteren Menschen liegen nicht selten Herzinsuffizienz, Demenz und Diabetes gleichzeitig vor. In diesem Fall könnten leitliniengerecht vielleicht 15 oder 20 Medikamente verordnet werden, so Prof. Dr. Elke Roeb. Doch alles zu verordnen, was angezeigt ist, ist nicht die Lösung – und genau bei der Entscheidung nach der richtigen Auswahl der Medikamente soll die Leitlinie Multimedikation helfen.
Was tun, wenn viele verschiedene Erkrankungen vorliegen?
Um eine sinnvolle Auswahl an Wirkstoffen zu treffen, ist es wichtig, vorab ein Ziel zu setzen: Was ist dem Patienten bzw. der Patientin wichtig? Welche der Erkrankungen führen am stärksten zu einer Reduktion von Lebensqualität und Lebenserwartung? Hier sollte man ansetzen und entsprechend geeignete Präparate auswählen, ausprobieren und kontinuierlich überprüfen, welche Medikamente gegebenenfalls wieder abgesetzt werden können.
Wie arbeitsintensiv und zeitintensiv Multimedikation für Arzt oder Ärztin ist, zeigt das Schema aus dem Arzneimittelkompass:
Dennoch gehört die gewissenhafte Überprüfung des Medikationsplans laut Prof. Roeb zu den ärztlichen Pflichten, die sich nicht delegieren lassen. Roeb gibt anhand der Leitlinie einige Hilfestellungen, wie dies effizient und qualifiziert gelingt.
Zwei der häufigsten Nebenwirkungen auf einen Blick
Für die qualifizierte Erstellung oder Überprüfung von Medikationsplänen ist es hilfreich, die häufigsten Nebenwirkungen zu kennen. Prof. Dr. Roeb zeigt in ihrem Vortrag, welche häufig verordneten Medikamente ein hohes anticholinerges Risiko mit sich bringen. Mithilfe dieser Übersicht können Ärztinnen und Ärzte vermeiden, Medikamente mit ähnlichem Nebenwirkungsprofil zu verordnen. Die Liste findet sich auch in der Leitlinie (siehe S. 57).
Die zweite häufige Nebenwirkung, die bei Polymedikation eine Rolle spielt, ist die Verlängerung der QT-Zeit. Werden in Summe mehrere Präparate verordnet, die eine QT-Zeit-Verlängerung mit sich bringen, lohnt es sich zu prüfen, ob sich einzelne Präparate durch Präparate mit einem anderen Nebenwirkungsprofil ersetzen lassen.
Praxistipps bei Polymedikation
Wie kommt es dazu, dass Multimedikation so häufig ist – und das, obwohl Medikationspläne mittlerweile Pflicht sind? Laut Prof. Dr. Roeb liegt dies kurz gesagt meistens an einer mangelnden Übersicht. Befristete Therapien werden oftmals nicht als solche gekennzeichnet oder Bedarfsmedikationen werden zur Dauertherapie.
Folgende Praxistipps können Ärztinnen und Ärzten dabei helfen, diese häufigen Probleme zu vermeiden:
Der Medikationsplan – Dreh- und Angelpunkt bei Multimedikation
Ein Medikationsplan sollte grundsätzlich vollständig sein und im bundeseinheitlichen Format erstellt werden. Die Koordination liegt in der Regel beim Hausarzt bzw. der Hausärztin, bzw. beim Hauptbehandelnden.
Ziel ist es, eine Über- oder Unterversorgung mit Medikamenten zu verhindern. Deshalb ist es im Zuge des Medikationsplans notwendig, die Einnahme-Vorschriften und die Adhärenz zu hinterfragen sowie Doppelverordnungen auf den Grund zu gehen. Prof. Roeb nennt wichtige Eckpunkte, die durch die Erstellung bzw. Prüfung eines Medikationsplans leiten:
Leitfragen zum Medikationsplan:
- Liegt ein aktueller und schriftlicher Einnahmeplan vor? Und sind die Einnahmevorschriften korrekt?
- Sind die Handhabung und Anwendungsvorschriften praktikabel?
- Bestehen Doppelverschreibungen?
- Ist die Adhärenz zur Therapie gegeben?
- Wird jede behandlungsbedürftige Indikation therapiert?
- Wurde die kostengünstigste Alternative vergleichbarer Präparate ausgewählt?
Wichtig dabei: Einfach weiterverordnen, was einmal entschieden wurde, ist in der Praxis aus Zeitmangel keine Seltenheit – für Patientinnen und Patienten aber problematisch. Laut der konsensbasierten Leitlinien-Empfehlung sollte mindestens einmal jährlich eine Medikationsüberprüfung zwischen Arzt und Patient erfolgen.
Fazit: Die Rücksprache mit Patienten ist zentral
Evidenzbasierte Empfehlungen in Abstimmung mit dem Patienten sollten immer mithilfe des Medikationsplans erfolgen und auch dort dokumentiert und umgesetzt werden. Ein zentraler Aspekt, der im Dialog immer wieder abgefragt werden sollte, ist der Erhalt der Lebensqualität. Was ist dem Patienten bzw. der Patientin wichtig? Was dient dem Erhalt der Funktionsfähigkeit? Das kann individuell sehr unterschiedlich sei – und entsprechend muss auch jeder Medikationsplan individuell gewichtet werden.

- Patienteninformation "Medikamente - nehme ich zu viele ein?"
- Video on demand: DGIM-Vortrag zum Thema Multimedikation
- Arzneimittel-Kompass 2022 "Kapitel Multimedikation"
- Langfassung "Leitlinie Multimedikation"