
Delir kann vermieden werden – mit der richtigen Intervention
Rund 60 % aller Delirien werden nicht erkannt. Die Folge: Betroffene bekommen nicht die bestmögliche Behandlung, es kommt zu mehr Komplikationen sowie Verlust von Autonomie. PD Dr. Christine Thomas (Stuttgart) stellt eine neue Studie vor, die zeigt: Delir-Prävention kann funktionieren.
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Dieser Beitrag basiert auf dem Vortrag von PD Dr. med. Christine Thomas (Stuttgart) „Evidenz für die Delirprävention“ auf dem DGIM2023 | Autorin: Dr. Linda Fischer
Mit einer diagnostischen Lücke von 30 bis 60 % wird die Delir-Prävalenz im Allgemeinkrankenhaus grob unterschätzt, konstatiert PD Dr. med. Christine Thomas, ärztliche Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie für Ältere am Klinikum Stuttgart.1,2
Delir ist kein Durchgangs-Syndrom
Mögliche Folgen eines Delirs umfassen ein zunehmendes, funktionelles Defizit im stationären Verlauf, einen längeren Krankenhausaufenthalt, eine Pflegeheim-Einweisung, Behandlungskomplikationen (Inkontinenz, Stürze, Dekubitus) und erhöhte Mortalität akut und im Verlauf. 85 % der Patientinnen und Patienten mit Delir nach Hüft-Operationen entwickeln eine Demenz oder versterben innerhalb von 2 Jahren.1,3–5
4-Punkte-Screening für Delir-Diagnose
Um ein Delir zu diagnostizieren, wird zunächst gescreent mit CAM (Confusion Assessment Method) oder 4 A’s Test (4AT). Die Diagnoseüberprüfung erfolgt ärztlich oder über Delir-Expertinnen und -Experten in der Pflege. Die 4 abzufragenden Punkte im Rahmen des Delir-Screenings umfassen:
- akuter Beginn und schwankender Verlauf des veränderten geistigen Zustandes
- gestörte Aufmerksamkeit
- Desorganisiertheit des Denkens
- quantitative Bewusstseinsveränderungen
Punkt 1 und 2 sind mandatorisch für die Diagnose eines Delirs. Sind zusätzlich Punkt 3 oder 4 positiv, liegt eine hohe Delir-Wahrscheinlichkeit vor, erklärt Thomas.
Delir vermeiden, z. B. in Prävention-Sprechstunde, körperliche Aktivierung
Um ein Delir zu vermeiden, nennt Thomas folgende Faktoren:
- sensorische Beeinträchtigungen reduzieren, um die Teilhabe älterer Patientinnen und Patienten am Alltag und den Krankenhausabläufen zu verbessern (Hilfsmittel wie Hörgerät, Brille, Uhr, Infobrett bereitstellen, aktivierende Pflege, Tag-Nacht-Rhythmus erhalten)
- Mobilität verbessern
- vermeidbare Delir-Auslöser wie Schmerzen, Malnutrition, Flüssigkeitsmangel, Stress und Immobilisation reduzieren
- Angehörige einbeziehen (Rooming-in Konzept)
- Medikation reduzieren
- Schlafstörungen nicht medikamentös behandeln
- Nierenfunktionsstörungen ausgleichen
- Tipp der Direktorin: Eine Prävention-Sprechstunde kann für einige der genannten Punkte relevant sein.
Präoperativ rät Thomas dazu, sowohl Flüssigkeitshaushalt als auch Stressniveau zu optimieren. Generell seien die Prinzipien der Pharmakotherapie im Alter zu beachten (start low – go slow (but go) – and stop!) und anticholinerge Medikation zu vermeiden. Eine Indikation für Psychotropika/Sedative sollte gezielt gestellt und vaskuläre sowie andere Risikofaktoren langfristig kontrolliert werden. Cholinesterase-Hemmer seien keinesfalls geeignet für eine allgemeine, präoperative, medikamentöse Prophylaxe.
Generell reduzieren Regeln des „erfolgreichen Alterns“ das Delir-Risiko, resümiert Thomas. So sei das Risiko z. B. bei regelmäßiger körperlicher Aktivierung geringer, ein Delir zu erleiden.
Falls doch Medikamente, dann richtig einsetzen
Auch der richtige Einsatz von Medikamenten kann das Risiko eines Delirs reduzieren:
- Schlafförderung und Schlafhygiene, möglichst ohne Medikation. Falls unumgänglich, bevorzugt nicht Benzodiazepine, sondern niederpotente Neuroleptika, wie Pipamperon oder Melperon, in geringer Dosis einsetzen.
- suffiziente Schmerzbehandlung
- strukturierte Protokolle zur Analgesie (reduzierte Dosis kann Entzugssyndrome reduzieren und das Outcome verbessern)
- angepasste, minimierte Sedierung (auch bei Beatmung) kann das Outcome deutlich verbessern. Hinsichtlich Prämedikation seien Midazolam und Benzodiazepine allgemein zu hinterfragen, da sie hoch delirogen seien, so Thomas. Dexmedetomidin sei bis heute nur auf Intensivstationen verfügbar.
Neue Studie: perioperativ 33 % weniger Delir-Risiko
In der im Jahr 2022 veröffentlichten PAWEL-Studie konnte ein Team um Thomas zeigen, dass durch multimodale Intervention zur Delir-Prophylaxe und -Therapie sowie individualisierte Aktivierung durch geschultes Personal, mit mehrfach täglichen Besuchen (je ca. 3–15 Minuten, 8–20 Uhr), das Delir-Risiko gesenkt werden kann. Der Effekt war signifikant bei abdominalen und orthopädischen Operationen (Odds Ratio OR 0,59; 95 % Konfidenzintervall KI 0,35–0,99; p = 0,047) – nicht aber bei herzchirurgischen Eingriffen (OR 1,18; 95 % KI 0,70–1,99; p = 0,54), im Vergleich zur üblichen Pflege.
Diese Studie sei eine der bislang größten Studien mit hochaltrigen Risikopatientinnen und -patienten, unterstreicht Thomas. Sie umfasste 1.470 Personen im Alter von 70 bis 98 Jahren (50 % männlich), die sich einer orthopädischen (48 %), herzchirurgischen (37 %) allgemein-chirurgischen (10 %) oder einer anderen Operation (5 %) von 2 bis 4 Stunden Dauer unterzogen.
Über alle Patientinnen und Patienten hinweg erlitten 21,6 % ein Delir. Bei Personen mit herzchirurgischem Eingriff waren es 35 %, wobei die Intervention zwar keinen Unterschied in der Ausbildung eines Delirs bewirkte, aber immerhin die Aufenthaltsdauer verkürzte. Bei den restlichen Eingriffen erlitten 16,3 % ein Delir, und die Intervention bewirkte eine Risikoreduktion um 33 %.
Risikofaktoren für ein Delir waren höheres Alter (p = 0,01), geringer Score im Montreal Cognitive Assessment (p < 0,001) und Demenz (p = 0,004).6
Das Fazit: Multimodale Delir-Prävention lohnt sich, stellt aber durch ein zusätzliches Team einen Aufwand dar, der vergütet werden muss. Die Intervention als Präventionsprogramm ist innerhalb von 12 Wochen implementierbar. Laut Thomas benötigen herzchirurgische Eingriffe weitere Interventionen für eine Prävention. Sie fordert eine Ausweitung des Programms auf akut chirurgische und akut internistische Krankenhausbehandlungen mit hohem Delir-Risiko.
Auch Cochrane-Review zeigt wirksame Delir-Prävention
Dass eine Delir-Prävention generell wirksam ist, zeigt auch ein rezenter Cochrane-Review: Nicht-pharmakologische Multikomponenten-Interventionen reduzierten die Inzidenz von Delir um ca. 43 %, mit der größten Evidenz im chirurgischen Bereich. Handlungsfelder mit dem größten Einfluss waren
- Reorientierung und „familiar objects“,
- kognitive Stimulation und
- Schlafhygiene7