Als der Facharzt für Chirurgie Jullien Gaer diesen Sommer in einem Brief an die Zeitung
The Times beklagte, dass die Assistenzärzte von heute eher Dienst nach Vorschrift machen anstatt sich als „Berufene" zu verstehen, sprach er damit eine viel größere Sorge an: Dass in der Medizin etwas Heiliges verloren gegangen sei.
Er argumentierte, dass sich die Medizin von einem Berufszweig, der von jungen, ehrgeizigen Fachleuten ausgeübt wird, die von ihrer Berufung angetrieben werden, zu einem Berufszweig gewandelt habe, der von Angestellten ausgeübt wird, deren Hauptanliegen die Einhaltung der Arbeitszeiten ist.
Er ging noch weiter und zitierte Anekdoten von Chirurgen in der Ausbildung, die mitten in einer Operation ihre Handschuhe ausziehen und den Operationssaal verlassen, sobald ihre Schicht endet, sowie von anderen Chirurgen, die vor einer morgendlichen Operation die relevanten Bilddaten nicht mehr überprüfen können. Auch wenn diese Berichte nur als Anekdoten betrachtet werden können und nicht die Wahrheit über den gesamten Berufsstand widerspiegeln, lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie „Schichtarbeit“ unser Fachgebiet verändert hat.
Historisch wurde die Ausübung der Medizin als heilige Berufung angesehen. Das Wort „Berufung“ selbst stammt vom lateinischen „vocare“ („rufen“) und hat theologische Wurzeln. Es bezieht sich auf eine Berufung durch eine höhere Macht, eine besondere Funktion auszuüben. Während des größten Teils der Menschheitsgeschichte wurde die Medizin in ähnlicher Weise betrachtet: als eine Aufgabe von großer Bedeutung, die Hingabe erfordert. Aber eine solche mythische Sichtweise verschleiert oft, was eigentlich geheiligt wird.
Ja, viele Ärzte fanden einen tiefen Sinn in der Aufopferung für ihren Beruf, aber das System nutzte diese Erzählung auch, um Ausbeutung zu rechtfertigen. Die Berufung mit ihrer historischen Aufladung war ein bequemer Weg, um mühsame lange Arbeitswochen zu rechtfertigen, um das System am Laufen zu halten.
Aber hat Gaer hier etwas Tieferes angesprochen? Verlieren wir als Berufsstand etwas, wenn wir unseren Ärzten erlauben, ihren Beruf als reine Schichtarbeit zu betrachten? Und was bedeutet es für die Medizin, eher eine Berufung als ein einfacher Job zu sein?
Arbeit und Identität
Einige Ärzte werden von dieser Einstellung zur Medizin verwirrt sein. Sie halten Forderungen, den Beruf als lebensbestimmende Tätigkeit und Erweiterung des Selbst darzustellen, möglicherweise für antiquiert und nur für akademische Erklärungen an medizinischen Fakultäten geeignet. Man könnte argumentieren, dass diese Sprache die menschliche Seite des Arztberufs herunterspielt, die mit einer ganzen Reihe von realen Unzulänglichkeiten, Fehlbarkeiten und zusätzlichen Verpflichtungen einhergeht.
Der Weg zur Meisterschaft
Um Meisterschaft zu erlangen, sind Opfer erforderlich. Da Gaer die Chirurgie erwähnt hat, konzentrieren wir uns auf chirurgisches Können. Chirurgisches Können ist eine Kunstform und wie Spitzensportler, die unzählige Stunden opfern, um Elite-Status zu erreichen, müssen auch Chirurgen dasselbe tun. Das Paradoxe daran ist jedoch, dass erzwungene Opfer auch Ressentiments hervorrufen können. Wenn das System endlose Opfer normalisiert, können sich nur diejenigen, die über ein gewisses Maß an finanziellen, sozialen und sogar psychologischen Privilegien verfügen, leisten, erfolgreich zu sein.
Eine gesunde medizinische Kultur muss 2 Wahrheiten gleichzeitig berücksichtigen, die oft im Widerspruch zueinander stehen: 1. Ärzte sind Menschen mit begrenzten Energien und Ressourcen und 2. die Medizin unterscheidet sich von anderen Berufen, da die Verantwortung für Menschenleben oft verlangt, über die vertraglich festgelegten Grenzen hinauszugehen.
Über den Autor
Arya Anthony Kamyab ist Arzt im zweiten Ausbildungsjahr und arbeitet im Nordosten Englands. Sie können ihm auf
Instagram folgen.
Dieser Beitrag ist im Original auf Medscape.com erschienen.